Nach Baku in Aserbaidschan ist es nicht so weit, so haben die Türken also doch ihr Heimspiel bei dieser Europameisterschaft erhalten. Die Türkei und Aserbaidschan gelten als Bruderländer, oben auf den Rängen saßen die Staatschefs Recep Tayyip Erdogan und Ilham Aliyev einträchtig nebeneinander, gefühlt hatte jeder der offiziell 30 000 Zuschauer im Nationalstadion eine türkische oder aserbaidschanische Flagge in der Hand. Wer keine mitgebracht hatte, bekam vor der Arena eine in die Hand gedrückt - gratis, versteht sich.
Die unverhoffte Heimspielatmosphäre hat den Türken aber nichts eingebracht, im Gegenteil, sie haben nach der Auftaktniederlage gegen Italien auch ihr zweites EM-Spiel verloren. Nach dem 0:2 (0:1) am Mittwoch gegen Wales steht das in seiner Heimat sehr kritisch beäugte Team schon vor dem Aus - die Waliser dagegen sind erneut auf bestem Wege Richtung Achtelfinale. "Wir sind in einer fantastischen Position jetzt", sagte Gareth Bale, der beide Treffer vorbereitet, aber auch für amüsante Momente gesorgt hatte.
Dafür, dass beide Teams bei ihren ersten EM-Auftritten ihre Offensivbemühungen komplett verweigert (Türkei) oder erst sehr spät entdeckt hatten (Wales), entwickelte sich eine kurzweilige Partie. Das lag vor allem an den Briten, die bei der EM 2016 in Frankreich überraschend erst im Halbfinale am späteren Sieger Portugal gescheitert waren. Was Wales anbot, war nicht wirklich neu, aber effektiv. Angriff für Angriff bediente sich das Team von Trainer Robert Page erfolgreich eines Stilmittels aus dem Standardrepertoire britischer Fußballmannschaften - womit es gegen überforderte Türken verblüffenden Erfolg hatte.
Der "Trick", der eigentlich keiner war, ging so: Aus dem Halbfeld wurde steil ein langer Ball geschlagen, häufig von Bale, als Zielspieler auserkoren war Stürmer Aaron Ramsey, der mehrfach gänzlich frei vor dem Tor auftauchte. Bei seiner ersten Gelegenheit überkam Ramsey noch die Ehrfurcht, nach missglückter türkischer Abseitsstellung hatte er ausgesprochen viel Zeit, beförderte den Ball aber kläglich Richtung Abendhimmel (26.).
Gareth Bale vergibt binnen weniger Sekunden zwei richtig gute Gelegenheiten
Es folgte Chance Nummer zwei, und kurz vor der Pause blieb der Stürmer von Juventus Turin so cool, als hätte es die peinliche erste Chance gar nicht gegeben. Baugleiche Aktion, langer Ball von Bale in den Lauf, Ramsey schob lässig zur Führung ein (42.). Es wurde ganz schön leise auf den Rängen.
Laut wurde es erst wieder in der zweiten Halbzeit - aber nicht, weil die Türken dem Ausgleichstreffer sehr nahe gekommen wären. Wieder verblüfften die Waliser, insbesondere der international schwer erfahrene Bale, der in der zweiten Halbzeit erst einen berechtigten Foulelfmeter deutlich über das Tor setzte (61.) und Sekunden später, nach einem kapitalen Fehler von Torwart Cakir, angeschossen gleich nochmal slapstickhaft scheiterte (62.). Bale wurde hinterher natürlich nach diesen Szenen befragt. Ja, er habe einen Strafstoß vergeben, sagte Bale, "aber ich finde, danach habe ich einen guten Charakter gezeigt".
Ganz sicher meinte er damit seinen Laufweg vor dem 2:0, als Bale in der Nachspielzeit im Sprinttempo die Grundlinie entlangeilte und im richtigen Moment in die Mitte zu Connor Roberts passte, der für Wales alles klar machte (90.+5). Er sei "total erleichtert", erklärte Bale, "das zweite Tor war das Sahnehäubchen." Auch Kollege Ramsey sagte, man könne jetzt "mit viel Selbstvertrauen nach Italien fahren". Am Sonntag, in Rom, geht es gegen die Italiener um den Gruppensieg.
Die schwer enttäuschten Türken waren nicht in der Lage, den Chancenwucher des Gegners zu bestrafen. Mit null Punkten und 0:5 Toren aus zwei Spielen können sie sich auf das frühe EM-Aus und geharnischte Schlagzeilen aus ihrer Heimat gefasst machen. Die TV-Experten gaben die Richtung schon mal vor. Für dieses Spiel gebe es "keine Erklärung", sagte Nihat Kahveci, 69-facher Nationalspieler, im türkischen Fernsehen: "Ich kann es nicht glauben, und ich will es auch nicht glauben." Auch Trainer Senol Günes berichtete, man sei in einer "schwierigen" Situation: "Wir haben davon geträumt, die Gruppe zu überstehen." Dafür müsste am dritten Spieltag ziemlich viel passieren.