Italien bei der Fußball-EM:Der Hype ist erstmal verflogen

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Ganz schön geschafft: Roberto Mancini und Marco Verratti stehen im Viertelfinale der EM. (Foto: Justin Tallis/Reuters)

Plötzlich platt und langsam: Nach furioser Vorrunde muss Italien im Achtelfinale gegen Österreich lange leiden - Trainer Mancini macht am Ende natürlich trotzdem wieder alles richtig.

Von Oliver Meiler

Auch Leidensfähigkeit ist eine fußballerische Tugend, diese Zähheit in der Widrigkeit, die Erduldung eines Siegs. Die Italiener sind nun im Viertelfinale, aber der Hype um ihr schönes, federleichtes Spiel aus der Vorrunde ist fürs Erste verflogen. Eine österreichische Sturmbö - und weg war die Leichtigkeit. "Mit dem Herz im Hals" schrieb die römische Zeitung Corriere dello Sport nach dem erst in der Verlängerung erstrittenen 2:1, Italien sei dem Wolf im Wald begegnet. Der Himmel habe geholfen, dem Himmel sei Dank - viel mehr Lob an die Österreicher geht wohl nicht. Es muss gleich noch mehr von der Anrufung des Überweltlichen berichtet werden, aber zunächst noch mal zur Leidensfähigkeit der Azzurri im Londoner Wembley.

Die Italiener schauen diese EM auf Rai und auf Sky Italia. Auf Sky kommentiert ein berühmtes Duo die Spiele der Nazionale. Einen kennt die Welt: Giuseppe "Beppe" Bergomi, heute 57, früher ein Signore von einem Innenverteidiger, Mailänder und eine Karriere bei Inter, einst 81 Länderspiele. Den anderen kennen vor allem die Italiener: Fabio Caressa. Bergomi gibt den Experten, Reporter Caressa den Schwätzer.

Pro Spiel verwechselt Caressa im Schnitt etwa zehn Mal den Namen eines Spielers. Der österreichische Mittelfeldspieler Florian Grillitsch zum Beispiel war für Caressa noch ein paar Mal am Ball, da stand er schon lange nicht mehr auf dem Platz - und auch die Azzurri verwechselt er. Caressa hat seine Standards, zu Spielbeginn zum Beispiel hält er immer einen kleinen Monolog, den er sich vorher aufschreibt, er ist nie arm an einfachem Pathos. Nach dem Pausenpfiff sagt er: "Der Schiedsrichter schickt alle in die Kabine für einen heißen Tee." Und zum Spielschluss: "Der Schiedsrichter sagt, es reiche jetzt." Nicht ab und zu sagt er das. Immer, immer. Man muss das schon hören wollen, zumal wenn das Spiel zusätzlich noch auf einem anderen Kanal läuft. Doch im Netz gibt es herrliche Parodien auf das Duo von Sky, die sind so gut, dass eben auch das Original mit der Zeit Kult wurde.

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Caressa und der gute Bergomi kommentierten also auch das Samstagabendspiel im Wald mit dem bösen Wolf. Die erste Halbzeit ging noch ganz gut, die Italiener griffen an: 39 Offensivaktionen gegen elf, und elf Torschüsse gegen einen der Österreicher. Man dachte sich, das kommt schon, muss, ist ja Österreich. Die mochten Franz Klammer und Niki Lauda gehabt haben und die wunderbare Sissi. Man kennt sich, man hat sich schon in epischen Schlachten gemessen, über Grenzverläufe gestritten, Nachbarsgeschichten eben. Aber im Fußball?

"Beppe, was wir doch leiden heute Abend!", sagt der Reporter

Nach dem Tee war dann jedoch alles anders, und die wohlig sitzende Gewissheit aus der locker überflogenen Vorrunde implodierte bei den Italienern wie ein schlecht abgemischtes Soufflé. Österreich erzielte sogar ein 1:0 (65.), das, Riesenglück für Italien, wegen Abseits nicht galt. Dennoch Caressa in der 69. Minute: "Wir leiden schrecklich." Caressa in der 75. Minute zu Bergomi und der versammelten Nation: "Beppe, was wir doch leiden heute Abend!" Bergomi in der 79.: "Italien hat den Kopf verloren, mit jeder Minute werden wir nervöser." Caressa in der 86. Minute: "Und wir leiden weiter. Man sieht unseren Spielern die Angst ins Gesicht geschrieben." Caressa in der 89. Minute: "Eine lange, durchlittene Nacht ist das, Beppe." Caressa in der Nachspielzeit vor der Verlängerung: "Wir leiden ganz fürchterlich."

Ein Crescendo war das, eine einzige Verneigung vor dem Gegner, dem bisher ersten der Italiener in diesem Turnier, der sie hoch presste, beherzt und konzertiert, ähnlich teamstark wie es die Azzurri selbst tun. Dann verstieg sich Caressa zu einem Geistesblitz: "Es ist wie im richtigen Leben", sagte er, "wer siegen will, muss leiden können." Vielleicht doch besser die schläfrige Rai schauen?

In der Zwischenzeit hatte das leidende Italien den alten Rekord von Torwartlegende Dino Zoff überboten, 47 Jahre hatte der gehalten: 1143 Minuten ohne Gegentor. Am Ende wurden es nun 1168. Gigio Donnarumma, die Nummer eins im Tor, kann sich den Bestwert zwar nicht allein zuschreiben, die Nummern zwei, drei und vier auf der Position haben auch mit ein paar gegentorlosen Minuten mitgeholfen, aber immerhin: Es gibt eine neue Rekordmarke, der Druck ist weg. So ging Italien in die Verlängerung.

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Caressa und Bergomi hätten Wechsel anraten können, taktische Justierungen - sie waren aber erstarrt im Leiden beim Zuschauen. Das hatte auch damit zu tun, dass Marco Verratti, der bekannteste Namen in einer Mannschaft von Namenlosen, im Mittelfeld zwar oft und formvollendet um seine eigene Achse schwirrte, aber kaum etwas nach vorne bewegte. Überhaupt die ganze Schaltzentrale der Nazionale: erstaunlich platt und langsam, viel weniger direkt als in den ersten Spielen. Für Aufregung sorgten nur die schnellen Flügelläufer, einer vor allem: Leonardo Spinazzola, ein Umbrer, 28, der für die AS Roma spielt und dort nach dieser EM schwer zu halten sein wird. "Spina" wurde in drei bestrittenen Turnierspielen jetzt schon zum zweiten Mal von der Uefa zum "Star of the match" gewählt.

Beide Torschützen der Italiener kommen von der Bank

Die Wende gelang allerdings dank der Einwechslung von Glauben und Kirche: Federico "Fede" Chiesa trägt in seinem Namen gleich zwei Komponenten, Glauben und Kirche eben, die Italiens Zeitungsmacher zu Sprachspielereien verleiten. "Fedes Glaube", titelte diesmal ein Blatt - so etwas wie ein sprachlicher Pleonasmus. Federico Chiesa ist der Sohn von Enrico Chiesa, der ebenfalls Nationalspieler und Torschütze bei der EM vor 25 Jahren war, auch damals schon in England. Der Filius ist bei der Fiorentina groß geworden und spielt nun seit einer Saison bei Juventus Turin. Es war eine gute Saison, mit etlichen erlösenden Toren.

Für Roberto Mancini aber, den Commissario Tecnico, war Chiesa im Nationalteam plötzlich nicht mehr erste Wahl. Der 23-Jährige musste Domenico Berardi Platz machen, was ihn in seinem nicht ganz schmal bemessenen Stolz traf. In seinem Tor gegen Österreich zum 1:0 (95.) - in dieser schnellen Sequenz: Kontrolle, rechts, links - war dann alles drin, die volle Packung eines natürlich angeborenen Selbstvertrauens. "Es ist nie zu spät, in ein Spiel einzugreifen und ein Tor zu erzielen", sagte er später.

Nach der Begegnung gegen Wales hatte man Chiesa Englisch reden hören, perfekt - er hat in Florenz die internationale Schule besucht. Er wolle, hatte Chiesa einmal gesagt, schließlich eine Alternative haben, wenn das mit dem Fußball nichts werde. Nun, es wird wohl was werden. Auch der zweite Torschütze der Italiener (2:0/105.), Matteo Pessina, kam von der Bank. Auch ihm, einem "bravo ragazzo", einem guten Jungen, zollt das Land gerne Tribut für sein Leben neben dem Platz: Pessina von Atalanta Bergamo, 24, nunmehr vier Tore in acht Länderspielen - eine beachtliche Quote für einen Mittelfeldspieler - studiert Wirtschaftswissenschaften an einer Universität in Rom. Und diese Begebenheit aus dem wahren Leben kommt auch bei Caressa und Bergomi nie zu kurz.

Doch auch die zwei Tore von der Ersatzbank gereichten nicht zu einem Ende des Leidens. Der Wolf im Wald, er blieb eine ständige Gefahr. "Gerissen hat er uns nicht", schreibt La Repubblica. Österreichs Anschlusstor durch den Stuttgarter Kalajdzic (114.) beendet Donnarummas Zu-null-Lauf, aber nicht die Serie der unbesiegten Italiener (jetzt seit 31 Spielen). Trainer Mancini, der nun natürlich wieder alles richtig gemacht hat, weil er das B-Team immer bei Laune hält und keinen aus dem vermeintlichen A-Team privilegiert behandelt, sagte nach dem Spiel: "Dieses Leiden wird uns noch sehr nützlich sein im weiteren Verlauf des Turniers. Solche Siege tun gut." Sie helfen, die Füße wieder auf den Boden zu setzen, Abheben war viel leichter gewesen.

Das Viertelfinale werde nun vielleicht sogar einfacher, sagte Mancini noch - egal, wer dann Gegner sein wird. Man reise jedenfalls gelassen nach München. Mit dem Herz in der Hand.

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