Wer sich am Mittwoch in London mit dem Halbfinale der Fußball-EM befasste, der musste sich fragen, ob da wirklich ein Fußballspiel im herkömmlichen Sinne stattfinden sollte. Nicht, dass die örtliche Presse irgendwelche Geschehnisse für wichtiger gehalten hätte als das dritte Semifinale mit englischer Beteiligung, das dann am Abend im Wembley-Stadion stattfand. Aber zu einem klassischen Fußballmatch gehören eben zwei Mannschaften. Und die Dänen existierten bei den Betrachtungen im Grunde nicht. Als wäre das Spiel gewonnen, das Endspiel gegen Italien am Sonntag längst erreicht.
Die Engländer siegten tatsächlich. Aber nach dem 1:1 zum Ende der regulären Spielzeit bedurften sie einer Verlängerung - und eines wohlwollenden Schiedsrichters. Nach dem Hauch einer Berührung durch Mathias Jensen ging Raheem Sterling in der 104. Minute zu Boden. Der Videoschiedsrichter korrigierte nicht, Harry Kane verschoss zunächst - und setzte dann den Nachschuss ins Netz, England siegte nach 120 Minuten mit 2:1. 55 Jahre nach dem Sieg bei der WM 1966 steht England bei einem großen Turnier wieder im Finale.
Die Eröffnung der Partie entsprach voll und ganz der Erwartungshaltung eines Publikums, das nach allem dürstete: nach Emotionen, nach gemeinsamen Erlebnissen und Chören, und natürlich nach Bier. Kaum, dass die Musik verstummt war, die Wembley vor der Partie in einen gigantischen Karaoke-Tempel verwandelt hatte - von "Football's Coming Home" bis "Sweet Caroline" war alles dabei -, machten die Engländer Anstalten, ihre Gäste aus Dänemark zu überrollen. Allein: Daraus erwuchs nichts von Belang. Unter anderem deshalb nicht, weil die Dänen sich von den 65 000 Zuschauern nicht einmal ansatzweise beeindrucken ließen.
Je länger sie den Ball vom eigenen Tor fernhielten, desto hölzerner wirkten die Zuschauer, und desto mehr ging den Engländern die Luft aus. Namentlich die beiden defensiven Mittelfeldspieler, Declan Rice und Kalvin Philipps, wirkten wie blinde Passagiere in einer offensiv mit überragendem Talent gesegneten Mannschaft. Nach und nach rissen die Dänen den Ball an sich, hatten ewig lang anmutende Ballbesitzperioden - und kamen nach einer halben Stunde tatsächlich zum Führungstreffer: Durch den 21-jährigen Mikkel Damsgaard, wen sonst, der schon zuvor einmal nur knapp den rechten Winkel verfehlt hatte und in vorangegangenen Spielen als Ersatz für den Herzpatienten Christian Eriksen von sich reden gemacht hatte.
Ins Tor setzte Damsgaard den Ball im Stile eines Brasilianers, als hieße er Damsgaardinho. Er muss den Ball auf geheimnisvolle Weise getroffen haben, denn von der Innenseite seines Fußes senkte sich der Ball über die Mauer hinweg mit perfektem Drall unter die Querlatte, wobei Torwart Jordan Pickford überragend schlecht aussah. Es war das erste direkte Freistoßtor des Turniers.
Harry Kane weckt das Publikum mit Trompetengeschmetter
Das 0:1 ließ Wembley in Stille versinken. Ehe aber die Frage die Runde machen konnte, ob die Nerven den Engländern einen Strich durch die Rechnung machen könnten, ob der Vertrauensvorschuss gar unerfüllbar sein könnte, weckte Kapitän Harry Kane das Publikum mit Trompetengeschmetter.
Erst bediente er Sterling von der rechten Seite mit einer präzisen Hereingabe; Sterling schoss den Ball genau auf den Sixpack von Dänen-Torwart Kasper Schmeichel. Das zweite Fanal des Harry Kane war ein grandioser Pass in die Tiefe, den Bukayo Saka erlief und in einen Querpass in den Fünfmeterraum verwandelte. Den Rettungsversuch jagte Kapitän Simon Kjær ins eigene Tor (39.). Es war das elfte Eigentor des laufenden Turniers. Und markierte den Pausenstand.
Zu Beginn der zweiten Halbzeit gab es keinen wahren Eigner des Balls mehr. Die beste Gelegenheit hatte Harry Maguire, als er den Dänen-Keeper Schmeichel mit einem platzierten Kopfball aus elf Metern zu einer Parade zwang (55.), die seinem berühmten Vater Peter Schmeichel alle Ehre gemacht hätte. Nach gut einer Stunde ordnete Dänemarks Trainer Kasper Hjulmand einen Dreierwechsel an, unter anderen kam der Leipziger Yussuf Poulsen für Damsgaard (67.). Englands Gareth Southgate antwortete, indem er den zuletzt verletzten Saka vom Platz holte und durch Jack Grealish ersetzte (69.).
Die vielen Wechsel nahmen der Partie Rhythmus und innere Logik. Wenn es einmal Böen guten Fußballs gab, kamen sie überraschend - und verschwanden wieder. Beide Mannschaften hatten erhebliche Mühen, klare Gedanken zu fassen, Angriffe auszuspielen. Der gefährlichste Abschluss ging noch auf das Konto von Englands Sechser Kalvin Phillips, der aus gut 20 Metern knapp das Tor verfehlte. Die Dänen waren groggy, von Krämpfen geschüttelt, von Verletzungen gepeinigt; Andreas Christensen und der Dortmunder Thomas Delaney meldeten sich noch in der regulären Spielzeit malad ab.
Dann kam die Verlängerung, die allein England gehörte. Schmeichel rettete noch gegen Kane aus spitzem Winkel. Doch am Ende kam Sterling im Strafraum zu Fall. Und besorgte einen mehr als nur schmeichelhaften Elfmeter, der im Tempel von Wembley bejubelt wurde wie ein Triumph.