England bei der EM:94 Minuten später geht die Party erst richtig los

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Premiere für den Nachwuchsprinzen: George, sieben Jahre alt, sieht bei seinem ersten Stadionbesuch, begleitet von Vater William und Mutter Kate, tatsächlich einen englischen Sieg über Germany. (Foto: Christian Charisius/dpa)

Die englische Nation singt und feiert - von der Partymeile bis in die Downing Street. Dass es diese Sache mit dem Virus gibt, davon ist vor, während und nach dem Spiel eher nichts zu merken.

Von Michael Neudecker, London

Ein paar Minuten vor Anpfiff sah es schlimm aus vor dem Stadion, wie es eben aussieht, wenn die Party vorbei ist. Bierdosen, Flaschen, durchnässte Papierfähnchen und anderer Müll, vereinzelt torkelnde Engländer, manche fotografierten die Reiterstaffel der Polizei am Rand der Allee zum Wembley-Stadion, die jetzt nichts mehr zu tun hatte. So war das ja immer, wenn England und Deutschland gegeneinander spielten, die Tage und Stunden bis zum Anpfiff waren aufregend, aufgeladen, dann begann das Spiel, und spätestens 120 Minuten und ein Elfmeterschießen später gab es für England nichts mehr zu feiern. Also feierten sie diesmal vorher, als sei das hier das WM-Finale, am Stadion, in den Pubs und drumherum, in London, Newcastle, Birmingham und anderswo. Dann begann das Spiel, und 94 Minuten später ging die Party erst richtig los.

"Beer we come", so beschrieb der Daily Mirror am Tag danach die englische Gefühlslage mit einem besonders kreativen Wortspiel, die Sun will herausgefunden haben, dass am Abend, als England zum ersten Mal nach 55 Jahren bei einem großen Turnier gegen Deutschland gewann, 20 Millionen Pints Bier getrunken wurden, was durchaus glaubwürdig erscheint. Die Regierung hatte die Arbeitgeber um etwas Flexibilität gebeten, das Spiel begann um 17 Uhr englischer Zeit, die Leute mussten also früher aufhören zu arbeiten, was dann ganz gut klappte. Dass es hier auch noch diese Sache mit dem Virus gibt, davon war vor, während und nach dem Spiel eher nichts zu merken.

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Die Zeitungen zitierten, um der Ekstase zusätzliche Stimmen zu geben, am Mittwoch viele Fans aus all den Public-Viewing-Veranstaltungen im Land. "Es ist so fantastisch", sagte einer, "es ist unglaublich", sagte ein anderer, "es ist der beste Tag meines Lebens", sagten mehrere. Im Stadion waren offiziell 42 000 Zuschauer, aber Wembley sah nicht aus wie halb voll, und es hörte sich auch nicht so an. Man muss sogar sagen, dass es sich anders anfühlte, und zwar nicht in emotionaler Hinsicht, sondern ganz konkret gemeint: Als Harry Kane das 2:0 erzielte, fiel es der Menge schwer, bei all dem Hüpfen und Umarmen kein Bier zu verschütten, weshalb einige sicherheitshalber ihre Becher gleich auf die darunterliegende Tribüne verteilten.

Schon während des Spiels wird ohrenbetäubend gesungen in Wembley

Mittendrin in all der Glückseligkeit, sofern das für jemanden seines Ranges möglich ist, war auch der Präsident des englischen Fußballverbandes FA, Prinz William, samt Ehefrau Kate und Sohn George. Der siebenjährige Nachwuchs-Prinz trug einen dunklen Anzug und die offizielle Krawatte der FA, und natürlich verzückte seine Anwesenheit nicht nur die anderen Gäste der Ehrentribüne, etwa David Beckham oder Ed Sheeran, sondern gleich die ganze Nation. Keine Zeitung, keine Website, kein TV-Sender kam am Mittwoch ohne zahlreiche George-Impressionen aus. George, wie er klatscht, George, wie er ein wenig verunsichert zwischen seinem ausgelassen jubelnden Vater und seiner dezent applaudierenden Mutter steht, aber vor allem George, wie er lacht. Es war sein erster Stadionbesuch, Vater William ist Anhänger von Aston Villa, es dürfte ihm schwerfallen, dem Jungen noch einmal ein vergleichbares Fußball-Erlebnis zu bieten.

Schon während des Spiels wurde ohrenbetäubend gesungen in Wembley, "Football's coming home", aber auch die Hymne, "God save the Queen", nach dem Spiel brachten die 42 000 ihre Begeisterung zum Ausdruck, indem sie in Dauerschleife "Sweet Caroline" sangen, so laut sie konnten, was sich umso besser anhört, wenn man, wie praktisch alle Zuschauer, keinen Mundnasenschutz trägt.

Tatsächlich 20 Millionen Pints Bier? Nicht ausgeschlossen. Englands Fans feiern am Trafalgar Square. (Foto: Tolga Akmen/AFP)

Boris Johnson verfolgte das Spiel natürlich auch, noch am Dienstagabend gingen Fotos um die Welt, wie der Premierminister vor einem großen Fernseher steht, jubelnd, die Arme ausgebreitet, wie auch Harry Kane, wozu einem Redakteur der Daily Mail die Beschreibung "Kane and able" einfiel. Die Kritik aus dem Ausland, in Anbetracht der vielen Corona-Fälle so ein Spiel zuzulassen, wies Johnson schon in den Tagen zuvor zurück. Veranstaltungen wie dieses Achtelfinale laufen in England als Forschungsprojekt, Wissenschaftler sammeln Daten, ob sich Massenzusammenkünfte auf die Zahlen der Infizierten und der ernsthaft Erkrankten auswirken; Ausgang offen.

Forschungsprojekte interessieren Fußballfans aber höchstens peripher, die ersten fingen noch am Dienstagabend an zu planen, wie sie nun das Viertelfinale in Rom besuchen könnten. Die Quarantäne-Bestimmungen in Italien und auch in England machen das ein wenig kompliziert, aber das Gute ist: Halbfinale und Finale sind ja wieder in Wembley.

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