Erfolg gegen Deutschland:Die Insel huldigt Southgate

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Geschafft: Englands Trainer Gareth Southgate bejubelt den Schlusspfiff der Partie gegen Deutschland. (Foto: Mike Egerton/dpa)

Den englischen Nationaltrainer begleiteten 25 Jahre lang Spott und Häme wegen seines verschossenen Elfmeters gegen Deutschland. Nun fliegen ihm die Herzen der Nation zu.

Von Sven Haist, London

Allein lief Gareth Southgate übers Spielfeld des Wembley-Stadions - so wie das bis auf drei Tage genau vor einem Vierteljahrhundert am selben Ort schon mal der Fall gewesen war. Damals, am 26. Juni bei der Heim-EM 1996, schritt Southgate mit gesenktem Kopf langsam zurück zur Mittellinie, nachdem er für England im Halbfinale gegen den späteren Turniersieger Deutschland im Elfmeterschießen den entscheidenden Strafstoß vergeben hatte. Die gnadenlos urteilende Inselpresse schüttete Spott und Häme über ihm aus und erinnerte ihn bei jeder Gelegenheit an seinen Fauxpas, den er in seinem Leben ebenso wenig loswurde wie das Mutterland des Fußballs den Makel, nach dem Heimsieg bei der WM 1966 regelmäßig bei Turnieren die Erwartungen enttäuscht zu haben.

Und nun, 25 Jahre später, flogen Southgate als englischem Nationaltrainer auf seiner Ehrenrunde die Herzen seiner Nation zu. Mit stehenden Ovationen verneigte sich England im 300. Länderspiel der Historie in Wembley vor Southgate als Schöpfer dieses 2:0 gegen Deutschland im EM-Achtelfinale. Der Erfolg über den Erzrivalen, der dem Land zuvor so viele schmachvolle Niederlagen zugefügt hatte, bringt den Three Lions zwar noch nicht den historisch ersten Titel bei einer EM ein, auch wenn es sich für die Fans offenbar so anfühlte. Aber immerhin das Viertelfinale am Samstag in Rom.

Nach Abpfiff riss Southgate am Seitenrand seine Arme nach oben und schaute in den Himmel, mit Sicherheit einer der wohltuendsten, wenn nicht sogar der angenehmste Moment seiner Karriere, die ihm 57 Länderspiele als Spieler und bislang 58 Länderspiele als Trainer bescherte. Anschließend bedankte sich Southgate bei jedem Spieler und jedem einzelnen Mitarbeiter seines Stabs mit einer hochemotionalen Umarmung, bevor er als Erster in den Kabinengang aufbrach.

In drei Spielen müsste die Hymne "Football's coming home" umgeschrieben werden

Unmittelbar am Ausgang wartete Deutschlands Sportdirektor Oliver Bierhoff auf ihn, um fair zu gratulieren. Bierhoff gehörte 1996 ebenso zum DFB-Kader wie Torwarttrainer Andreas Köpke, der sogar den Elfmeter gegen Southgate pariert hatte. "Das war ein brillanter Nachmittag", sagte Southgate gerührt: "Die Spieler waren absolut großartig und die Fans genauso. Die beste Stimmung, an die ich mich in Wembley erinnern kann."

Während Southgate auf der linken Spielhälfte den Fans zujubelte, nahm Kapitän Harry Kane gleichzeitig auf der rechten Spielhälfte den Jubel der durchdrehenden Mehrheit der zugelassenen 45 000 Zuschauer entgegen, darunter waren Prinz William und der frühere Glamourfußballer David Beckham. Aus den Stadionboxen hallte "Football's coming home" durchs Rund, die seit 1996 etablierte englische Turnierhymne, die den Herzschmerz beschreibt, seit inzwischen 55 Jahren auf einen Pokal warten zu müssen.

In drei Spielen müsste sie umgeschrieben werden, falls Kane seine Mannschaft zum EM-Sieg führt (und sich selbst zum ersten Titel). Kane wäre dann der Nachfolger des großen englischen Spielführers Bobby Moore. Nach drei glücklosen Auftaktspielen gelang dem Angreifer gegen Deutschland in der 86. Minute sein erstes Turniertor, bei den Feierlichkeiten an der Eckfahne und auf den Tribünen spielten sich in diesem schicksalshaften Moment unglaubliche Szenen ab. Ähnlich war es schon zuvor, als Raheem Sterling mit seinem dritten EM-Treffer die Führung erzielte (75.). Doch da mahnte Southgate noch zur Ruhe in einem wohl abgesprochenen Teamkreis kurz vor der Spielfortsetzung. In der hektischen Schlussphase behielt England den Überblick und verteidigte den Vorsprung mit aller Leidenschaft.

Schon am Mittag legen die Engländer größtenteils die Arbeit nieder

Das einmalige Erlebnis am Dienstag im dröhnenden Wembley dürfte auch zur Folge haben, dass England über das Achtelfinal-Aus gegen Island bei der EM 2016 hinwegkommt - eine der unangenehmsten Pleiten des Fußballnation, zugleich aber der indirekte Wendepunkt. Als kurz darauf der 67-Tage-Trainer Sam Allardyce grandios floppte, setzte der Verband auf den früheren U21-Trainer Southgate. Seine Aufbauarbeit fand im Triumph gegen Deutschland seinen vorläufigen Höhepunkt. Das Boulevardblatt Sun gab die Stimmung im Land wieder mit der Schlagzeile, dass England "endlich" die Deutschen geschlagen habe, was seit dem Finalsieg 1966 in keinem K.-o.-Spiel mehr gelungen war.

Schon am Mittag hatten die Engländer größtenteils die Arbeit niedergelegt, um sich zeitig einen Platz vor dem Fernseher in den unzähligen Pubs des Landes zu sichern. Überall war bei diesen Fantreffen der Schlachtruf "Please don't take me home" zu hören, der dafür steht, dass keiner mehr nach Hause möchte.

Wie die Inselmedien frühzeitig antizipiert hatten, entschied sich Southgate erstmals im Turnier (und zum 26. Mal insgesamt) für eine Dreierabwehrkette, um den Einfluss der deutschen Außenspieler Joshua Kimmich und Robin Gosens zu reduzieren, die dann tatsächlich kaum in Erscheinung traten. "Zurück in die Zukunft", titelte der Telegraph dazu, weil England dieses Vorgehen bereits bei der vergangenen WM mit Erfolg gewählt hatte.

Über aggressives Zweikampfverhalten und viel Laufbereitschaft versuchte England, den fehlenden Spielwitz zu kaschieren. Das disziplinierte, aber zunächst teils auch verkrampft wirkende Vorgehen wurde von Southgates förmlichem Auftreten in edler Kleidergarderobe geradezu versinnbildlicht. Erst nach einer Stunde war er bereit, mit der (von riesigem Beifall versehenen) Einwechslung des feingliedrigen Jack Grealish (69.) für mehr Lässigkeit zu sorgen - ein Glücksgriff. Der Spielmacher von Aston Villa leitete sechs Minuten nach seiner Hereinnahme mit einem verzögerten Pass zum Vorlagengeber Luke Shaw das 1:0 ein - und gab wiederum elf Minuten später den Assist für Kane zum 2:0. Ein Sieg für die Ewigkeit?

"We can be heroes forever and ever", rief der Mirror dem Nationalteam vor dem Spiel zu, angelehnt an den Welthit "Heroes" des 2016 verstorbenen britischen Musikers David Bowie. Das würde bedeuten, dass jetzt alle Helden wären, für immer und ewig. Die Sun widmete den Erfolg unter anderem "Gazza" (Fußballlegende Paul Gascoigne), "Psycho (Stuart Pearce) und Chrissy Waddle" (Elferfehlschützen 1990), "Frank" (Lampard, dessen Treffer gegen Deutschland bei der WM 2010 fälschlicherweise nicht zählte) und den Fans - sowie, in fetten Großbuchstaben, dem einst tragischen und nun wahrhaftigen Helden: Gareth Southgate.

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