DFB-Team:7:1 gewonnen - na und?

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Gute Laune ist erlaubt, aber das Ergebnis sei "heute nicht das Wichtigste" gewesen, sagt Thomas Müller (links). (Foto: Odd Andersen/AFP)

Nach dem hohen Sieg über Lettland stellt sich die Frage, ob der unterhaltsame Kick als Gradmesser für den EM-Auftakt gegen Frankreich taugt. Bundestrainer Löw arbeitet noch an der idealen Komposition fürs Mittelfeld.

Von Philipp Selldorf, Düsseldorf

Dainis Kazakevics sah aus, als wäre er Zeuge eines furchtbaren Vorfalls gewesen. Lettlands Nationaltrainer blickte aus schreckgeweiteten Augen in die feindliche Welt, unter Schock schien er zu stehen, und die lettischen Journalisten unternahmen nichts, um ihm seine Last zu nehmen. Stattdessen drangsalierten sie ihn mit Fragen nach seiner Taktik und den Nachwirkungen dieses Abends, der das Land noch lange peinigen würde. Schließlich gab Kazakevics eine Antwort, die alle Fragen erklärte: Wenn man nicht verlieren wolle, dann dürfe man nicht gegen einen viel stärkeren Gegner spielen.

Eine knappe Niederlage hatten die Letten erhofft, ein gar nicht knappes 1:7 ist es geworden, und es hat den armen Trainer Kazakevics und die Menschen daheim in Riga sicherlich nicht getröstet, dass ein führender Vertreter des Gegners hinterher erklärte, das Ergebnis sei "heute nicht das Wichtigste" gewesen. 7:1 gewonnen - na und? Das mag ein bisschen hochmütig klingen, doch Thomas Müller hatte die Lage und deren Wahrnehmung treffend eingeschätzt: Ein schlechtes Ergebnis wäre für die öffentliche und auch die interne Stimmung sehr wohl von Belang gewesen, ein 7:1 hingegen ist zwar schön anzuschauen und macht den einen oder anderen Spieler vorübergehend glücklich (ganz besonders galt das für den 1:0-Schützen Robin Gosens), stellt aber auch notwendigerweise die Sinnfrage. Taugt ein Gegner wie Lettland zur Generalprobe für das EM-Startspiel gegen Weltmeister Frankreich? Wenigstens ein bisschen?

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Es sei "natürlich von Vorteil, wenn man solche Spiele gewinnt", erläuterte der Bundestrainer mit unbewegter Miene, "allerdings muss man auch sagen, dass Frankreich ein ganz anderes Kaliber ist". Im Grunde hatte Jogi Löw an diesem Abend nicht viel mehr gesehen als ein gelungenes, unterhaltsames Trainingsspiel, bei dem außer ihm und sieben Millionen Menschen vor den Bildschirmen auch 1000 gutgelaunte Menschen im Stadion zuschauten. Dieser Abend, meinte der Coach, "sollte uns nicht dazu bewegen zu glauben, dass alle Arbeit getan ist".

Bundestrainer Löw überrascht gegen Lettland mit einer ungewöhnlichen Aufstellung

Mancher Experte möchte trotzdem meinen, dass Löw zumindest in einer zentralen Frage sein Werk bereits erledigt hätte. Die überraschende Aufstellung, die der Coach gewählt hatte, bewegt die Debatte: Der Umzug von Joshua Kimmich auf die rechte Außenbahn, die Mittelfeldzentrale mit den erfahrenen Technikern Ilkay Gündogan und Toni Kroos, die variable Offensive mit der verkappten Doppelspitze Kai Havertz und Thomas Müller sowie Serge Gnabry als Tempospieler - das alles sah für viele Beobachter verdächtig nach einem Entwurf für das Spiel gegen Frankreich aus. Nach einem ziemlich mutigen Entwurf allerdings.

Diese These wollte Löw allerdings nicht bestätigen. Die durchaus aufgeregte Diskussion nahm er mehr oder weniger gelangweilt zur Kenntnis. Kimmich könne überall spielen, außen, innen, in der Dreierkette, auch diesmal habe sich das bewahrheitet: "Jo hat es bekanntermaßen, weiß man ja auch, gut gemacht", stellte Löw etwas rätselhaft fest, bevor er nebenbei bemerkte, dass Lukas Klostermann, zuletzt Stammkraft an der rechten Seite, wegen einer Blessur nicht im Einsatz war.

Womöglich ist es dem Trainer nicht unrecht, dass nun das Rätselraten über die Besetzung der Mittelfeldzentrale weitergeht. Löw will, "dass um einzelne Plätze gekämpft und der Konkurrenzkampf hochgehalten wird". Er sieht sein Team immer noch in der Vorbereitung, was auch mit dem späten Start ins Turnier zu tun hat. Deutschlands Gruppe F ist die letzte, die ins Geschehen eingreift. Das verschafft dem Trainerstab Zeit, um an der idealen Komposition zu arbeiten. "Räume besetzen, Räume schaffen, Räume freimachen", diesen Erfordernissen werde man sich jetzt verstärkt zuwenden, so Löw, denn im modernen Spitzenfußball herrsche "wahnsinnige Raumknappheit". Als Überwinder dieser Not taten sich in Düsseldorf zwei Spieler besonders hervor: Robin Gosens ("es war der perfekte Abend") und Kai Havertz.

Mittelfeldakteur Kroos unterlaufen im Testspiel ungewohnt viele Fehlpässe

Mancher Spieler, so viel hat man am Montagabend auch erkennen können, braucht auch noch ein wenig Training. Überraschenderweise galt das auch und besonders für Toni Kroos, dem so viele Fehlpässe unterliefen wie womöglich zuletzt in der Jugend beim Greifswalder SC. Es sah aus, als ob dies ein Fall für die Abteilung Informationstechnik wäre, wie ein Programmierfehler. Immer wieder überrissen ihm seine typischen Diagonalpässe, die in der Regel in 100 von 100 Fällen punktgenau beim Mitspieler landen. Mit der Fitness habe das aber nichts zu tun, stellte ein komplett unbesorgter Löw klar. Kroos hatte zuletzt wegen einer Corona-Infektion pausieren müssen.

Außer zu Experimentierzwecken diente die Begegnung mit Lettland der Würdigung von Manuel Neuer. Der Kapitän bestritt sein 100. Länderspiel, wurde von allen gefeiert und war angemessen stolz darauf. Ganz glücklich war er mit dem Verlauf des Jubiläums jedoch nicht, die Torwart-Arbeit wurde ihm vorenthalten, und plötzlich gab es auch noch eines dieser ihm tief verhassten Gegentore. Das 7:1 gegen Brasilien sei "ein bisschen schöner" gewesen, stellte Neuer fest.

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