Um eine Ahnung davon zu bekommen, wie viel Druck in diesem Moment von ihnen abgefallen sein muss, reichte es schon, sie zu beobachten. Wie die Spielerinnen des deutschen Teams auf der Bank es in den letzten Minuten kaum noch aushielten und dann beim Schlusspfiff auf den Platz rannten und hüpften und in ständiger Umarmung ein Knäuel der Freude bildeten. Wie Lea Schüller einfach nur die Augen schloss. Wie Alexandra Popp sich Freudentränen wegstrich. Und wie der Interimsbundestrainer Horst Hrubesch die Arme in den Himmel streckte, bevor sein Kopf erst in den Händen und dann an der Stirn von DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig landete, der auch irgendwohin musste mit seiner Erleichterung.
Diese eine Chance hatten die Deutschen noch gehabt, um sich für die Olympischen Spiele in Frankreich diesen Sommer zu qualifizieren. Und sie haben sie genutzt. "Es fühlt sich unglaublich gut an, hier gewonnen zu haben", sagte Klara Bühl, "wir freuen uns enorm. Der Sommer ist gerettet!" Dass die Nationalspielerinnen durch das 2:0 gegen die Niederlande Dritte in der ersten Auflage der Uefa Nations League der Frauen geworden sind, war dabei egal. Der Podestplatz hinter Frankreich und Titelträger Spanien war Mittel zum Zweck. In Heerenveen ging es am Mittwochabend ums große Ganze.
DFB-Profi:"Im Nationalteam hat das eigene Ego nichts verloren"
Nach mehr als 200 Premier-League-Spielen für Brighton könnte Pascal Groß der Mittelfeldkämpfer sein, dem Nagelsmann bei der Fußball-EM vertraut. Im Interview spricht Groß über seine Entwicklung - und drei Bundestrainer in drei Länderspielen.
Innerhalb weniger Tage hatten sich die Deutschen von dem Rückschlag jener 1:2-Niederlage gegen Frankreich vergangenen Freitag erholen müssen, der sie gefährlich nah an die Zone der sportlichen Irrelevanz brachte. 2016 bei den Sommerspielen von Rio hatte die Auswahl des Deutschen Fußball-Bundes noch Gold gewonnen, danach aber folgten durchwachsene Jahre, geprägt von Ernüchterung. Die Europameisterschaft 2022 zeigte mit dem Finaleinzug, was möglich ist. Aber das vermeintlich große Erweckungserlebnis verlor ein Jahr später bei der WM abrupt seine Wirkung. Vieles wurde wieder infrage gestellt, die Trennung von Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg vergangenen Herbst verlief turbulent. Dabei sollte der EM-Hype doch nachhaltig wirken.
Und nun also diese Weggabelung: Aufbruch mit Aussicht auf Erfolg? Oder ruckeliges Abbiegen auf den Standstreifen mit Getriebeproblemen?
"Die Mädels haben das gemacht, was wir von ihnen erwartet haben. Sie sind über ihre Grenzen gegangen", sagt Hrubesch
Der ausgewiesene Fußballmechaniker Hrubesch, 72, glaubte so fest an die Olympia-Teilnahme seines Teams, dass nach dem Schlingern in Frankreich (mit erklärtermaßen schrofferem Ton) doch wieder in die Spur gefunden wurde. Diesmal konnten die Spielerinnen auch umsetzen, was sie sich vorgenommen hatten. Das formulierten sie zwar in branchenüblichen Redewendungen wie "Wir müssen alles geben" oder "von der ersten Minute an präsent sein". Aber konsequent umgesetzt entfaltete so manche Plattitüde die gewünschte kraftvolle Wirkung.
Hrubesch musste in Heerenveen erneut viel reinrufen, es gab wieder Szenen, an denen er zu verzweifeln schien, weil schon viel früher ein Treffer drin gewesen wäre. Zwischenzeitlich war die Partie mehr von Kampf statt von Spielfluss geprägt. Aber die Deutschen traten dominanter und wirkungsvoller auf als zuletzt. "Einfach war es nicht", resümierte Hrubesch später im ZDF. "Die Mädels haben das gemacht, was wir von ihnen erwartet haben. Sie sind über ihre Grenzen gegangen." Er stellte fest: "Sie können es. Aber du brauchst auch Mut."
Auf zwei Positionen änderte der Interimsbundestrainer die Startelf, Sydney Lohmann und Jule Brand starteten für Lea Schüller und Svenja Huth. Schüller brachte er dann aber doch schon nach der Pause. Die Deutschen spielten daraufhin dynamischer und gefährlicher, was in der 66. Minute zu einem Kopfball von Lena Oberdorf führte, der zur idealen Vorlage zum 1:0 durch Klara Bühl wurde; und es führte zum Siegtor von Schüller selbst, die beim Nachschuss nach einer Ecke genau richtig stand und per Kopf traf (78.).
Als klar war, dass die DFB-Elf diesmal - nach dem Verpassen der Spiele 2021 in Tokio - wieder mit dabei sein würde, machte Hrubesch keinen Hehl daraus, was dieses Jahr das Ziel sein wird bei Olympia: "Jetzt musst du sehen, dass du ins Endspiel kommst." Er werde jedenfalls nicht nach Paris fahren, um einfach nur mitzuspielen. Seine persönlichen Erfahrungen bei diesem Großereignis setzen einen hohen Maßstab: 2016 holte er mit der U21 der Männer Silber und erlebte das Gold der Frauen mit. Nun kann er versuchen, diesen Erfolg zu wiederholen. Ansonsten hätte er sich wieder ganz auf seinen Job als Nachwuchschef beim Hamburger SV konzentriert. "Horst war immer in unseren Gedanken", sagte Bühl. "Wir wussten, wenn es uns heute nicht gelingt, ist das vermutlich sein letztes Spiel gewesen. Da waren sicher ein paar Prozente mehr für ihn dabei."
Wie schwer Olympia wird, hängt auch von der Auslosung am 20. März ab. Potenzielle Gegner unter den insgesamt zwölf Teilnehmern sind die Weltmeisterinnen aus Spanien, Frankreich, Deutschlands WM-Gruppengegner Kolumbien, Brasilien, Kanada und die USA. Weil bei Olympia nur 18 Kaderplätze zu vergeben sind, darunter zwei für Torhüterinnen, wird sich der Konkurrenzkampf bis zur Nominierung verschärfen. Der DFB versucht zwar, daran zu rütteln, und hat mit anderen europäischen Nationen ein entsprechendes Schreiben an das Internationale Olympische Komitee (IOC) geschickt. Ändern dürfte sich an den Regeln allerdings nichts.
Aber daran dachte in Heerenveen wohl noch keine Spielerin. Und auch nicht daran, dass ab April gleich die nächste Qualifikation bewältigt werden will - für die EM 2025 in der Schweiz. Erst mal ging es darum, zu genießen. Sydney Lohmann stellte ein Video online, wie sie mit Klara Bühl und Marina Hegering in der Kabine einen Schlager über einen Schluckspecht schmettert und dazu Heineken aus der Dose trinkt. Kapitänin Alexandra Popp trug eine große Krone und tanzte. Selbstverständlich wurden Wünsche erfüllt, der Trainer hatte auch einen. Also schallte bei der Abfahrt im bunt beleuchteten Mannschaftsbus ein Lied von Andrea Berg aus der Box, die Spielerinnen sangen laut mit: "Ich bin mit diiiir so hooooch geflogen, doch der Himmel waaaar besetzt!" Auf dem Beifahrersitz schaute Horst Hrubesch nach hinten und lächelte beseelt.