DFB-Gegner im Halbfinale:Die Franzosen begraben ihre Ehrfurcht

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Nach leichten Startschwierigkeiten der gefährlichste Spieler in der Mannschaft der Franzosen: Stürmer Antoine Griezmann. (Foto: AP)

Vor dem Halbfinale gegen Deutschland gibt sich Frankreich plötzlich selbstbewusst. Trainer Didier Deschamps will sein Spiel durchziehen und Geschichte schreiben.

Von Thomas Hummel, Marseille

Was ein Spiel alles bewirken kann. Waren die Franzosen lange Zeit in diesem Turnier sehr kritisch mit ihrer Nationalmannschaft, ist das Land seit dem 5:2 gegen Island im Viertelfinale vergleichsweise in Euphorie geraten. "Jetzt glauben wir dran! Wir haben keine Angst vor Deutschland", titelte die Zeitung Le Parisien. Die Sportzeitung L'Équipe urteilte zunächst: "Fast perfekt." Um an diesem Mittwoch anzukündigen: "Er macht ihnen Angst." Zu sehen ist Angreifer Antoine Griezmann. Und wer "sie" sind, das kann sich nun jeder denken.

"Sie", die Deutschen, die für Frankreich irgendwie immer zu gut sind. Im Fußball sowieso, seit 1958 konnten "Les Bleus" in einem großen Turnier den Nachbarn nicht mehr besiegen. Nicht wenige blicken seit Jahren auch in anderen Fragen neidisch über den Rhein, auf die geringe Arbeitslosigkeit, die wirtschaftliche Stärke und das Selbstvertrauen der Nationalmannschaft. Doch jetzt endlich soll Schluss damit sein. Am Donnerstag im Halbfinale der eigenen Europameisterschaft soll Frankreich einmal gewinnen (ab 20.30 Uhr im SZ-Liveticker).

Löw muss seine Mannschaft zusammenflicken

Selten standen die Sterne so gut. Bundestrainer Joachim Löw zählt die Verletzten und Gesperrten, muss seine Mannschaft nach dem 120 Minuten gegen Italien zusammenflicken. Die Franzosen dagegen fahren frisch und vollzählig ins Stade Vélodrome. Das Vertrauen in die eigene Stärke stimmt nach dem Island-Sieg sowieso: "Ich weiß nicht, ob Deutschland wirklich besser ist. Natürlich hat Deutschland einen gewissen Status, aber es ist unklar, wer der Favorit ist", sagte Torwart Hugo Lloris. Das ist sehr viel offensiver als die Aussagen direkt nach dem Viertelfinale in Saint-Denis, als die meisten Spieler und Trainer Didier Deschamps stets davon gesprochen hatten, die Deutschen seien Weltmeister und deshalb quasi qua Geburt Favorit.

Auch Deschamps hat seine Zurückhaltung abgelegt. Die Deutschen würden immer ihren Gegner dominieren, sehr auf Ballbesitz vertrauen, sagte der Trainer. "Aber wir können nicht einfach nur defensiv spielen, wir haben auch unsere Möglichkeiten. Trotz allem Respekt wollen wir unser Spiel durchziehen."

Nur was bedeutet das? Die Franzosen rätseln ja genauso wie die Deutschen über Aufstellung und taktische Ausrichtung. Nicht, weil so viele Spieler ausfallen oder angeschlagen sind, sondern weil eben niemand gesperrt oder verletzt ist. Soll die erfolgreiche Island-Elf auch im Halbfinale auflaufen? Oder die dort gelbgesperrten N'Golo Kanté im Mittelfeld und Adil Rami in der Abwehr zurückkehren?

Die Entscheidung um Kanté beeinträchtigt dabei das gesamte Gebilde. Der defensive Mittelfeldspieler von Leicester City käme für Moussa Sissoko, eigentlich auch eher defensiv veranlagt, aber gegen Island rechts vorne eingesetzt. Aus einem System mit vier Offensiven würde dann eins mit drei, eine Variante mit Bedacht auf eine starke Zentrale. Was allerdings Antoine Griezmann vorne nach rechts verschieben würde wie zu Beginn des Turniers. Als die Franzosen erhebliche Probleme hatten, Chancen herauszuspielen.

So richtig schön ist die EM für den Gastgeber erst, seitdem der Angreifer von Atlético Madrid in die Mitte gerückt ist. Deschamps hatte im Achtelfinale gegen Irland umgestellt, weil beim Stand von 0:1 zur Pause das Aus drohte. Binnen weniger Minuten drehte seine Mannschaft das Spiel, zweifacher Torschütze war Griezmann. Gegen Island rollte die Offensive wie ein 320 Stundenkilometer schneller TGV über den Rasen. 4:0 zur Halbzeit, es war fulminant.

"Ich habe bisher die richtigen Entscheidungen getroffen"

Deschamps wehrte die Fragen nach der Aufstellung selbstverständlich cool ab. "Bleibt geheim bis morgen. Alles ist möglich", erklärte er und führte aus. "Ich habe gewisse Überzeugungen und ich habe bisher die richtigen Entscheidungen getroffen." Wobei er betonte, bislang habe auch die Defensive funktioniert. Vor dem Island-Spiel hatte sein Torwart Lloris nur zwei Gegentore hingenommen, beide aus einem Elfmeter. Und die beiden Tore der Isländer in der zweiten Halbzeit "lagen wohl daran, dass die Mannschaft etwas nachgelassen hatte. Beim Stand von 4:0 ist das verständlich."

Nun also der große Wurf gegen Deutschland. Zur Not soll es der Heimvorteil richten mit dem bekannt feurigen Publikum in Marseille. Um endlich die Geschichte zwischen den beiden Fußball-Nationen umzuschreiben. Denn da waren die beiden verlorenen WM-Halbfinals in den Achtziger Jahren. Vor allem das Aus im Elfmeterschießen 1982 nach Zwei-Tore-Führung in der Verlängerung jagt die Nation als eisiger Wind des Versagens. Auch vor zwei Jahren gewannen die Deutschen, diesmal 1:0 im Viertelfinale von Rio. Deschamps, der den Deutschen als Spieler nie bei einem Turnier begegnete, lautmalte: "Wir können die Geschichte nicht verändern, aber wir können ein neues Kapitel Geschichte schreiben."

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