DFB-Elf:Mehr Sturm wagen

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Der Klassiker des Nahduells mit kantigen italienischen Verteidigern: Gerd Müller erzielt das Tor zum 3:3 im WM-Halbfinale 1970. (Foto: Ferdi Hartung/Imago)

Hansi Flick hat ein Überangebot an Angreifern zur Verfügung. Statt auf Mittelstürmer alter deutscher Prägung setzt er auf den Typ Straßenkicker. Nur die richtige Kombination gibt noch Rätsel auf.

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Die Weltöffentlichkeit schaute an diesem Novembertag eher nach Madrid und London, aber der Bundestrainer war lieber nach Wolfsburg gereist. Man kann sich also vorstellen, dass sich Hansi Flick eher nicht für die Sehenswürdigkeiten in der Autostadt interessierte, sondern aus sehr pragmatischen Gründen den Weg nach Niedersachsen auf sich nahm. Wobei, so ganz stimmt das nicht: Da waren durchaus sehenswürdige Spieler auf dem Rasen in diesem nicht unbedingt weltbewegenden Champions-League-Vorrundenspiel zwischen dem VfL Wolfsburg und RB Salzburg.

Nach zwei Minuten dürfte Flick erstmals große Augen gemacht haben, denn da zeigte ein junger RB-Angreifer, dass er im Vollsprint locker eine ganze Defensive hinter sich lassen kann. Sein Schuss ging zwar knapp am Tor vorbei, aber Flick konnte notieren: Interessanter Junge. Definitiv Nationalmannschafts-Material. Nicht minder ansprechend dürfte der Bundestrainer den Auftritt eines Stürmers gefunden haben, der in einem mintgrünen VfL-Trikot auflief. In der zweiten Halbzeit nahm dieser Stürmer einen Diagonalpass mit der Brust an, in akkurater Maßarbeit jagte er den Ball in den Winkel. Mutmaßliche Notiz: Wow, was ein Schuss! Einladen!!

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Es war ein bitterkalter Abend, das Spiel als solches erwärmte weder Leib noch Seele. Aber Flick konnte sich aus der Nähe noch einmal der Rechtmäßigkeit vergewissern, dass er dem pfeilschnellen Karim Adeyemi, 20, zu diesem Zeitpunkt schon zwei Einsätze im DFB-Team gewährt hatte. Und er konnte sich davon überzeugen, dass der schussgewaltige Lukas Nmecha, 23, ein paar Sachen draufhat, die nicht viele deutsche Stürmer draufhaben.

Einziger Nachteil: Flick muss irgendwie die Übersicht behalten bei all diesen Angreifer-Kombinationen, die er mittlerweile zusammenstellen kann.

Schnell und schussgewaltig: Karim Adeyemi (li.) und Lukas Nmecha sind sich schon einmal in der Champions League begegnet, an einem kalten Oktoberabend in Wolfsburg, vor den Augen von Hansi Flick. (Foto: Eibner/Imago)

Der Prozess der Entscheidungsfindung muss sich für den Bundestrainer anfühlen, als habe er einen Gameboy mit dem Videospiel Tetris vor sich. Flick kann auf lauter verschiedenartige Bausteine zurückgreifen, aber die Kunst ist es, sie in eine logische Anordnung zu bringen. Das ist nicht leicht, denn eine Entscheidung, die richtig war, kann im nächsten Spiel schon wieder komplett falsch sein. Und dann stellt einem das Bundestrainerleben auch noch eine gemeine Zusatzaufgabe, die in Tetris gar nicht vorkommt: Bei jeder Entscheidung muss auch noch die Variable "Gegner" mitgedacht werden.

Für Flick trifft es sich daher gut, dass an diesem Samstag ein Nations-League-Spiel gegen Italien (Anpfiff 20.45 Uhr/RTL) auf dem Programm steht. Da spielt es auch keine Rolle, dass der immer noch amtierende Europameister nicht mehr für allerhöchste Spitzenqualität steht, seit er kürzlich die Qualifikation für die diesjährige Winter-WM in Katar verpasste. Denn an Defensivkompetenz hat es nicht gelegen bei den Italienern. Im Gegenteil: Es gibt nur wenige bessere Gelegenheiten für Angreifer, ihre persönliche Wettkampfhärte zu demonstrieren, als in Nahduellen mit dem kratzbürstigen Leonardo Bonucci oder dem schlauen Alessandro Bastoni.

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Die gesamte DFB-Delegation betonte in den vergangenen Tagen fast schon stoisch, dass die Nations League ein durchaus prestigeträchtiger Wettbewerb sei. Andererseits wäre Flick nicht Flick, wenn er diese Spiele nicht auch dafür nutzen würde, um die Theorie einem Praxistest zu unterziehen. Theoretisch geht ja eine ganze Menge: Serge Gnabry, Leroy Sané und Thomas Müller können zum Beispiel einen formidablen Bayern-Dreier-Block vor dem Mittelfeld bilden, der ganz vorn mit einer Vielzahl an falschen Neunern angereichert werden kann.

Die klassische Neun feiert weltweit Revival - hierzulande wird jedoch Mittelstürmerarmut beklagt

Der Spielmacher Kai Havertz kann in dieser Rolle seriös zweckentfremdet werden, sein temporeicher Chelsea-Teamkollege Timo Werner ist ebenfalls kein Vollstrecker alter Schule, auch der Dortmunder Marco Reus wurde schon auf dieser Position gesichtet - und dann war noch nicht mal die Rede davon, dass jeder Bayern-Block-Akteur natürlich ebenfalls über jene "Flexibilität" verfügt, die Flick am Freitag mit Blick auf sein reichhaltiges Angreifer-Portfolio lobte (und die ihn und sein Trainerteam übrigens auch "sehr froh, sehr happy" mache). Es würde auch niemand wagen, dem Bundestrainer in dieser Sache zu widersprechen. Auffällig ist nur: Die klassische Neun feiert ein weltweites Revival, während die frühere Mittelstürmernation Deutschland seit ein paar Jahren an auffälliger Mittelstürmerarmut leidet.

Ein Bundestrainer hat im Vergleich zu Vereinstrainern nun einmal den strukturellen Nachteil, dass er niemanden beauftragen kann, der etwaige Kaderdefizite mit klugen Transfers behebt. Ein Bundestrainer muss Kluges tun mit dem, was ihm die Nation zur Verfügung stellt. In seinem vormaligen Leben als Assistent von Joachim Löw hat er gelernt, dass es immer irgendwo an irgendetwas fehlt, wenn man mit dem Brennglas auf die Mannschaft schaut.

Doch ein deutsch-italienisches Stürmer-Verteidiger-Duell: Mario Gomez (unten) im EM-Halbfinale 2012 gegen den immer noch aktiven Leonardo Bonucci. (Foto: Imago)

Als die Mittelstürmernation Deutschland zum Beispiel noch die Mittelstürmer Mario Gomez und Miroslav Klose hatte, da drehten sich die Mängeldebatten um jenen Typ Fußballer, von dem Flick offenbar nicht mehr genug im Kader haben kann: moderne und rasante Angreifer, die jene kleinen Zuckungen draufhaben, die ihre Gegner große Schritte ins Leere machen lassen. Flick möchte weg von der Löw'schen Ballbesitztradition, er will den Fußball variabler gestalten und ein paar archaische Elemente einführen. Man kann sagen: Flick setzt auf Improvisationstalente und den Typ Straßenkicker - und er sucht sie sich nicht nur in Madrid oder London zusammen, sondern eben auch mal an einem bitterkalten Novembertag in Wolfsburg.

An den Personalien Adeyemi und Nmecha lässt sich idealtypisch erkennen, dass der gesamte Angriff von Flick nach neuen Prinzipien ausgerichtet wird. Der Bundestrainer misst seine Angreifer nicht ausschließlich an Scorerpunkten, er schaut auch, ob sie Instinkt besitzen und in den ideologischen Überbau passen. Das "Gesamtpaket" in der Offensive, sagte Flick mit einigem Selbstbewusstsein, brauche sich daher im internationalen Vergleich "nicht verstecken".

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Am ehesten passt Nmecha noch ins traditionelle deutsche Stürmerprofil, aber er macht auch entscheidende Dinge anders als viele seiner Vorfahren im DFB-Team. Es sind Dinge, die Flick auch an Gnabry, Müller und den anderen Angreifern zu schätzen weiß: Nmecha geht weite Wege nach hinten und jagt vorne Bällen hinterher, sobald die gegnerischen Verteidiger mit dem Spielaufbau beginnen. Ähnlich verhält es sich bei Adeyemi, der in Salzburg eine so bemerkenswerte Entwicklung hingelegt hat, dass Borussia Dortmund eine Schar an Konkurrenten beim Rennen um dessen Verpflichtung hinter sich lassen musste.

"Wir wollen wieder zu den Besten der Welt gehören", sagte Flick am Freitag noch. Er machte nicht den Eindruck, als sei für dieses Vorhaben ein Sturmtank altdeutscher Bauart erforderlich.

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