Mittelfeld der Nationalmannschaft:Wohin mit Müller?

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Thomas Müller stellt seine Qualitäten zurzeit beim FC Bayern zur Schau. Auf ihn kann Joachim Löw eigentlich nicht verzichten. Aber auch nicht auf vier andere Mittelfeld-Akteure. (Foto: Sven Simon/Imago)

Ob die Nationalelf bei der EM funktioniert, wird vor allem davon abhängen, wie Joachim Löw den Luxus im Mittelfeld ordnet. Es gibt fünf Spieler, die eigentlich spielen müssen.

Von Christof Kneer

Die Franzosen haben es nicht so gut wie die Mexikaner. Die Mexikaner haben im März 2018 ein Testspiel der deutschen Nationalmannschaft geschaut, und sie wussten danach fast alles. Sie hatten eine klare Idee davon, wie die Deutschen im Juni bei der WM in Russland spielen würden, sie ahnten auch schon, wer spielen spielen würde, und selbstverständlich wussten sie auch, warum: weil der Trainer der Deutschen, Joachim Löw, nur diesen einen Plan hatte. Er wollte Ballbesitzfußball, und er wollte ihn mit diesem Personal. Die Mexikaner hatten fast drei Monate Zeit, einen Plan zu entwerfen, mit dessen Hilfe sie die Deutschen dann beim ersten WM-Spiel mit 1:0 besiegten. Die Deutschen waren hinterher sehr überrascht, die Mexikaner nicht.

Die Franzosen werden auch genau hinsehen, wenn die deutsche Nationalelf nun Ende März ihre drei WM-Qualifikationsspiele gegen Island (25.3.), in Rumänien (28.3.) und gegen Nordmazedonien (31.3.) bestreitet, aber ob sich aus diesen Eindrücken schon ein Schlachtplan fürs EM-Auftaktspiel am 15. Juni gewinnen lässt? Eher nicht. Denn diesmal hat der Trainer der Deutschen, Joachim Löw, selbst noch keinen Plan, oder, um es freundlicher zu formulieren, vielleicht sind es auch zwei, drei unterschiedliche Pläne, die er noch prüfen muss. Die Corona-Pause hat seine Mannschaft 2020 in eine Art Ganzjahresschlaf versetzt, es ließen sich weder neue Erkenntnisse gewinnen noch welche einstudieren, und so muss Löw nun damit leben, dass sein Team und er plötzlich im Qualifikationsbetrieb für die WM 2022 wieder aufwachen - ein Turnier, das Löw nicht mehr verantworten wird. Dabei müsste er eigentlich eine Mannschaft einspielen für das letzte Turnier, das er noch verantwortet - die EM 2021, die offiziell noch EM 2020 heißt. Löw müsste jetzt also dringend jene kompakte Fünfer-Abwehrkette erproben, die er beim EM-Auftakt gegen Frankreich favorisiert; aber gegen Island, Rumänien und Nordmazedonien reicht ihm eigentlich eine Viererkette, die ihm einen Mann mehr für sein Mittelfeld ermöglicht.

Es ist alles sehr kompliziert.

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Die Trainer der deutschen Gegner müssen einstweilen akzeptieren, dass nicht mal der deutsche Trainer das Personal genau kennt, mit dem er demnächst in dieses Turnier ziehen wird. Noch hat Löw nicht entschieden, ob er Thomas Müller und Mats Hummels wieder in Betrieb nimmt, und auch an dieser Entscheidung ist nichts einfach: Als Typen bräuchte er am ehesten Thomas Müller, aber genau da, wo der Typ am liebsten spielt, ist Löws Elf ausnahmsweise üppig besetzt.

Schon jetzt steht fest, dass Löw jene Entschlossenheit, die er gerade für sich reklamiert, dringend brauchen wird. Gerade da, wo es seiner Elf vermeintlich am besten geht, ist die Gefahr am größten, einen turnierentscheidenden Fehler zu begehen. Löws Mittelfeld lädt die Konkurrenz zu Neid und Missgunst ein, aber ob das ein Luxus bleibt oder zum Luxusproblem wird, muss sich erst noch erweisen. Löw wird in Topform sein müssen, um diesen Überfluss in den Griff zu bekommen. Im Mittelfeldzentrum sind drei oder, im Falle einer Fünferabwehr, sogar nur zwei Plätze zu vergeben, und die Kunst wird darin bestehen, diese drei Stammplätze an die vier unverzichtbaren Stammspieler Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Toni Kroos und Ilkay Gündogan zu verteilen - und wenn Thomas Müller noch hinzukommt, hat Löw fünf Spieler für drei Plätze.

Und dass einfach jeder der Fünf an Ende 0,6 Stammplätze kriegt, und dann geht die Rechnung auf? Hm. Wird schwer.

Moment ist Gündogan vielleicht der formstärkste Mittelfeldspieler Europas

Es sind verschiedene, untereinander konkurrierende Argumente, die Löw sortieren und für sich in die richtige Reihenfolge bringen muss. Spätestens nach dem 0:6 in Spanien, als Joshua Kimmich fehlte, müsste dem Bundestrainer klar sein, dass er den Münchner Willensathleten im Mittelfeld braucht, auch wenn Löw am Mittwoch eine Rückversetzung Kimmichs auf die rechte Abwehrseite demonstrativ nicht ausgeschlossen hat. Unstrittig dürfte auch sein, dass Kimmich unbedingt Leon Goretzka an seiner Seite braucht; die pumpende Doppel-Sechs ist das Herzstück des FC Bayern.

Ebenso wenig ist daran zu zweifeln, dass jede Mannschaft der Welt Toni Kroos benötigt, den coolsten Spieler unter der Sonne, dessen Aura als 1000-maliger Champions-League-Gewinner jeden Gegner raunen lässt. Und natürlich bestreitet auch niemand, dass man den besten Spieler der besten Mannschaft der besten Liga aufstellen sollte, wenn man das Glück hat, ihn im Kader zu haben. Ilkay Gündogan ist bei Manchester City mit 30 Jahren nochmal zu einem völlig neuen Spieler geworden, Pep Guardiola besetzt ihn offensiver als je zuvor, bei fast jedem Angriff zieht es ihn inzwischen in den Strafraum. Dass Gündogan "ein außerordentlich guter Stratege" ist, weiß Löw längst, aber inzwischen "sprechen auch seine Tore für ihn". Er hat bereits 16-mal getroffen in dieser Saison, ein Stürmerwert. Im Moment ist Gündogan vielleicht der formstärkste Mittelfeldspieler Europas, er muss natürlich auch spielen.

Also doch auf Müller verzichten?

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Wer Müller am Wochenende beim 4:0 gegen den VfB Stuttgart gesehen und gehört hat, wird diese Frage wieder zurückziehen, denn nur Müller hat, was diese Nationalelf dringend braucht: Er ist der erwachsenste Müller, den es je gab, und gleichzeitig hat er eine kindliche Leidenschaft wiederentdeckt, die ihn zu einem Ereignis macht. Müller ist wie der Animateur im Ferienclub, der "um 13 Uhr Beachvolleyball!" brüllt, wenn die Urlauber gerade dabei sind, auf ihren Liegen wegzupennen. Müller allein hat am Wochenende die Unterzahl der Münchner nach dem Platzverweis gegen Alphonso Davies weggerannt und weggebrüllt.

In den drei März-Spielen wird Jogi Löw eine Vor-Entscheidung erspart bleiben, Toni Kroos ist mit muskulären Problemen abgereist. Dem Bundestrainer wird nichts anderes übrig bleiben, als das Einspielen einer Mittelfeldformation aufs Trainingslager in Seefeld zu vertagen, Ende Mai ist allerdings ein gefährliches Datum. Am 29. Mai findet parallel das Champions-League-Finale statt, vielleicht haben Kimmich, Goretzka und Müller (oder Gündogan) dann gerade Dienst. Vielleicht spielen sie dann gegen Real Madrid und Toni Kroos. Vielleicht spielen sie auch gegen den FC Chelsea mit dem jungen deutschen Mittelfeldspieler Kai Havertz, der übrigens auch gerne einen der drei Mittelfeldplätze hätte.

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