Deutsche Nationalelf:Weigl taktiert wie der jüngste Routinier der Welt

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Über die Bank ins Spiel? 17 Spieler setzte Bundestrainer Joachim Löw bei der EM bisher ein, Julian Weigl (r.) könnte der nächste sein. (Foto: AFP)

Der Dortmunder steht vor dem Halbfinale exemplarisch dafür, dass sich der deutsche Fußball kaum sorgen muss - nur auf einem Gebiet ist der 20-Jährige erschreckend schwach.

Von Christof Kneer, Évian

Die Szene haben sie in Dortmund aufgezeichnet, wenn es hart auf hart kommt, könnten sie das also beweisen. Julian Weigl hat ein Tor geschossen, es war im Abschlusstraining vor einer Europa-League-Partie in Saloniki. Es ist kostbares Bildmaterial, über das sie beim BVB verfügen, denn sie haben da eine Szene auf Band, die sich in etwa so oft einfangen lässt wie der Yeti oder das Ungeheuer in Loch Ness. Ja, das gibt es wirklich: Julian Weigl trifft, und die Teamkollegen jubeln.

In Dortmund sagen sie, Weigl habe präzise zwei Tore erzielt in der abgelaufenen Saison, beide im Training. Für einen Spieler, der nicht Torhüter ist, ist das eine fast schon ehrenrührige Quote, trotzdem fiele es in Dortmund niemandem ein, an der Ehre dieses jungen Mannes zu rühren. Das liegt daran, dass Julian Weigl noch andere Zahlen in Anrechnung bringen kann: Er ist erst 20 Jahre alt und hat vorige Saison beim europäischen Spitzenklub Borussia Dortmund bereits 51 Spiele bestritten, davon 43 über die komplette Spielzeit. Insgesamt, so steht es in den Datenbanken des BVB, kommt dieser dünne Mensch damit auf 3900 Spielminuten; das sind deutlich mehr als in der vergangenen Spielzeit (1900), die er noch beim Zweitligisten TSV 1860 München verbrachte. Mathematisch begabte Menschen würden daraus womöglich schließen, dass Julian Weigl in der abgelaufenen Saison auf doppelt so hohem Niveau doppelt so viel gespielt hat.

Man sollte Julian Weigl also nicht unterschätzen, auch wenn er nie aufs Tor schießt. Als Bundestrainer Joachim Löw vor ein paar Tagen gefragt wurde, wer in seinem Mittelfeld im Fall der Fälle Bastian Schweinsteiger ersetzen könnte, hat er neben dem Ballack-artigen Wuchtbolzen Emre Can sofort den jungen Weigl genannt, dessen "Passspiel, Positionsspiel und Gefühl für den Raum" er mit den nahezu identischen Worten rühmt wie Weigls Klubtrainer Thomas Tuchel. "Julian war diese Form der Belastung vorher gar nicht gewohnt und hat die Saison trotzdem auf einem extrem hohen Niveau durchgespielt", sagt Tuchel, "und wenn er ausnahmsweise mal nicht ganz auf seinem Niveau war, hat unsere Mannschaft das sofort gemerkt. Das macht es so besonders: dass er im ersten Jahr gleich eine prägende Rolle eingenommen hat."

Thomas Tuchel hat Julian Weigl vor knapp zwei Jahren zum ersten Mal gesehen, im Fernsehen kam ein Zweitliga-Spiel, und der damals 18 Jahre alte Weigl war im Zuge des wunderbaren Alltagsirrsinns bei 1860 vorübergehend zum Kapitän ernannt worden. Tuchel hat dann extra seine Frau gerufen, um ihr zu zeigen, dass da im Fernsehen gerade ein Kind Platzwahl macht, und dieses Kind hat er seitdem nicht mehr aus den Augen verloren. "Julian könnte auch in einem Halbfinale gegen Frankreich von Anfang spielen", sagt Tuchel heute über das Kind von damals.

Julian Weigl ist wohl das, was man einen modernen Sechser nennt. Manchmal wirkt sein Spiel noch, als habe er seinen Körper in der Kabine vergessen, aber er ist ein Stratege, den die Mitspieler schon suchen, als wäre er ein Routinier. "Er kann aber auch hart verteidigen", sagt Tuchel. Wo Weigls Weg einmal hinführt, kann noch niemand präzise vorhersagen; niemand weiß, ob in diesem jüngsten Routinier der Welt auch offensivere Instinkte stecken, die womöglich noch geweckt werden können. Was man aber weiß oder zumindest ahnt: dass der deutsche Fußball sich keine großen Sorgen machen muss.

Die Debatte um Bastian Schweinsteigers Knie erinnert von Ferne an die Debatte, die bei der vorletzten EM um Michael Ballacks Wade geführt wurde. Zwar war Ballack damals, anders als Schweinsteiger heute, noch ein weltweit führender Athlet, aber hinter dem stolzen Adonis ließ sich damals schon der alternde Gigolo erkennen. Das nächste Turnier in Südafrika hat Ballack nicht mehr erreicht, ebenso wenig wie sein Sidekick Torsten Frings; ihre Plätze im Herzen des deutschen Spiels übernahmen der jung gereifte Bastian Schweinsteiger und der kraftstrotzende Sami Khedira, der nebenbei noch das perfekte Vorbild für den zeitgenössischen Migrationshintergrund-Athleten abgab. Auch diese Helden haben sich nun aber wund gelaufen in den Arenen der Welt, und so gestatten die Diskussionen um Schweinsteigers Knie und Khediras Adduktoren nun schon den nächsten Blick in die Zukunft.

Wie lange erlaubt sich Löw seine Treue?

Das defensive Mittelfeld ist im modernen Fußball Kraftraum und Denkerstübchen zugleich, und den sehr treuen Bundestrainer wird in seinem Innern schon die Frage umtreiben, wie lange er sich seine Treue noch erlauben will. Mit Schweinsteiger rechnet beim nächsten Turnier kaum noch einer; keiner geht davon aus, dass sich auf dem Weltmarkt tatsächlich ein Modell etablieren lässt, wonach ein Spieler immer nur zu Turnieren in die Nationalmannschaft einrückt. Und der 29 Jahre alte Khedira spielt an seinen kraftstrotzenden Tagen immer noch wie ein 29 Jahre alter Khedira, aber an den nicht so kraftstrotzenden Tagen zwicken ihn die Zerrungen, oder es maulen die Muskelfasern.

Nach dem Turnier wird Löw überlegen, wann er einen kleinen Umbruch braucht, und wie er ihn im Bedarfsfall moderiert. Toni Kroos ist die neue Respektsperson in der Zentrale, Ilkay Gündogan wird, sobald ihm sein Körper wieder gehorcht, ebenfalls ins DFB-Team zurückkehren, auch Khedira könnte seinen Körper noch mal überreden, bis zur WM 2018 im Rhythmus zu bleiben. Aber Löw wird in der nächsten WM-Qualifikation auch schon jene Spieler erproben, die mit 20 Jahren schon 51 Spiele für Dortmund bestreiten. Neben Weigl dürfte auch der etwas wilde Liverpooler Emre Can zu den Kandidaten gehören, womöglich auch der Münchner Joshua Kimmich, sofern Löw ihn nicht fachfremd rechts hinten besetzen muss; der Schalker Leon Goretzka wird ebenfalls hoch geschätzt.

Noch ist nicht sicher, ob man Julian Weigl nicht vielleicht doch noch in diesem Turnier in Frankreich zu sehen bekommt. So gut wie sicher ist aber, dass er dabei kein Tor schießen wird.

© SZ vom 07.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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