Ingolstadts Jonas Stettmer im DEL-Finale:Eine außergewöhnliche Torhütergeschichte

Lesezeit: 3 min

Und raus das Bein: Mit dem linken Schoner wehrt Jonas Stettmer, 1,94 Meter, einen Versuch von Münchens Kapitän Patrick Hager ab. (Foto: Fehrmann/HMB / Imago)

In der Finalserie bestreitet Ingolstadts Jonas Stettmer sein erstes DEL-Spiel von Beginn an - und der 21-Jährige erlebt gegen Titelfavorit München einen unvergesslichen Abend.

Von Christian Bernhard

Jonas Stettmer musste erst einmal durchatmen. Herunterkommen. Verarbeiten, was bis vor wenigen Tagen noch unvorstellbar zu sein schien. Oder es zumindest versuchen. Also huschte er hinter die Bande und lehnte sich daran an, umarmte den Teambetreuer und drückte ihm kopfschüttelnd eine Scheibe in die Hand - als Erinnerung. Dann musste er schon wieder zurück aufs Eis, der Torhüter des ERC Ingolstadt war an diesem Abend ein begehrter Interviewgast. Als er als letzter Spieler seiner Mannschaft in die Kabine ging, machten die Betreuer bereits die Bank sauber.

Stettmer hat am Dienstag sein erstes Spiel von Beginn an in der Deutschen Eishockey Liga (DEL) bestritten. Und das gleich in der Finalserie gegen den EHC Red Bull München. Dass der 21-Jährige großen Anteil hatte am Ingolstädter 4:3-Sieg, durch den der ERC in der Best-of-Seven-Serie auf 1:2 verkürzte, machte seinen Abend noch unvergesslicher - und war die nächste außergewöhnliche Torhütergeschichte in den laufenden Playoffs.

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Mark French hat den ERC Ingolstadt auf Platz zwei in die Playoffs der Deutschen Eishockey Liga geführt und ist zum Trainer des Jahres gewählt worden. Sein Zugang zu den Spielern fußt auf dem Studium der Psychologie.

Interview von Christian Bernhard

Die Umstände, unter denen die Ingolstädter in Finalspiel drei gegangen waren, hätten komplizierter kaum sein können. Sie lagen in der Serie 0:2 zurück, mussten eine herbe 1:7-Heimpleite verdauen, wussten, dass eine weitere Niederlage wohl den Weg zum Titelgewinn für München asphaltieren würde - und gingen in dieses so wichtige Spiel mit Torhüter Nummer drei, dem Ersatzmann des Ersatzmanns; der noch kein DEL-Spiel von Anfang an bestritten hatte.

Eine Aufgabe wie gemacht für den studierten Psychologen und ERC-Trainer Mark French. "Ganz ehrlich: Wir haben nicht zu viel darüber gesprochen", sagte French hinterher. Als allen klar war, dass Stettmer spielen würde, da sich Kevin Reich nicht fit genug fühlte und Michael Garteig weiter verletzt fehlt, seien die Mitspieler großartig gewesen, erzählte der DEL-Trainer des Jahres. Sie sprachen viel mit dem jungen Torhüter und "sie wussten, dass sie ein bisschen mehr machen mussten, um ihm zu helfen". Ingolstadts Torhütertrainer Varian Kirst gab ihm in Beckenbauer-Manier noch mit: "Geh raus und spiel."

Druck machte sich Stettmer vor allem selbst, doch er besann sich auch auf seine jüngsten Erlebnisse. Den Fehler, zu viel über die Playoffs nachzudenken, "habe ich in Ravensburg gemacht", erzählte er vor der Münchner Olympia-Eishalle. Sein Käppi war nach hinten gedreht, die Kopfhörermuscheln schienen seitlich an seiner Stirn zu kleben. Stettmer war in den laufenden Playoffs der zweiten Liga zweimal für die Ravensburg Tower Stars im Viertelfinale gegen den EV Landshut zum Einsatz gekommen. Daraus habe er lernen können und so vor Finalspiel drei "entspannt vor mich hingelebt".

Bei der Nationalhymne ist es vorbei mit der Lockerheit. Aber dann wächst mit jeder Parade des Selbstbewusstsein

Als er dann auf dem Eis stand, war die Nervosität plötzlich wieder da. Bei der Nationalhymne verdeckten seine langen Haare vollständig sein Gesicht; es wirkte so, als wollte Stettmer die Anspannung mit kleinen Tippelschritten abschütteln. Zur Aufregung gesellte sich in der ersten Drittelpause Unzufriedenheit mit sich selbst wegen des ersten Gegentors. "Da war ich eher sauer", sagte er. Mit dem Start des Mitteldrittels sei die Nervosität dann aber weg gewesen - und als er in Minute 23 einen Alleingang von Münchens Kapitän Patrick Hager mit dem linken Schoner stoppte, war er voll im Spiel: "Mit jeder Parade ist das Selbstbewusstsein größer geworden."

Zusatzschicht am TV-Mikrofon: Jonas Stettmer nach seinem ersten Playoff-Sieg in der DEL. (Foto: Heike Feiner/Eibner/Imago)

Hager traf zwar doch noch zum Münchner 3:2 (38.), doch im Schlussdrittel hielt Stettmer seine Mannschaft im Spiel, speziell gegen Ben Street, dessen Versuch aus kurzer Distanz der 1,94 Meter-Mann abermals mit dem Schoner vereitelte. Ty Ronning kennt diese Qualität Stettmers aus dem Training: "Mit seinen langen Beinen ist er sehr gewandt", erzählte der Ingolstädter Stürmer. Wojciech Stachowiak (55.) und Tye McGinn (56.) sorgten mit ihren Toren innerhalb von 42 Sekunden dann dafür, dass der ERC die Partie noch drehte. Besonders in Erinnerung blieben Stettmer die letzten 20 Sekunden, als die Münchner mit einem zusätzlichen Feldspieler auf den Ausgleich drängten. Sekunde für Sekunde schilderte er die Ereignisse, beschrieb das "Kuddelmuddel" vor ihm, bei dem ihm seine Torwartkelle abhandenkam. Die Szenen liefen noch lange nach Spielschluss "wie ein kleiner Film" vor seinem inneren Auge ab, "den werde ich heute noch ein paar Mal abspielen", sagte er lächelnd.

Stettmer ist nicht der einzige junge deutsche Torhüter, der sich in den aktuellen Playoffs in den Vordergrund spielt. Mannheims Arno Tiefensee, 20, war der Lichtblick bei den im Halbfinale gescheiterten Adlern, Bremerhavens Maximilian Franzreb, 26, brachte die Münchner zu Beginn der Viertelfinalserie ins Grübeln. Beide zeigten über ganze Playoff-Serien ihr Können und sind jetzt im WM-Vorbereitungskader der Nationalmannschaft. Diese Entwicklung kann dem neuen Bundestrainer Harold Kreis nur gefallen, die jungen Goalies machen Druck auf die arrivierten Mathias Niederberger (München) und Dustin Strahlmeier (Wolfsburg).

Stettmer gönnte sich am freien Mittwoch erst einmal ein Bad in der Eistonne und ließ sich "schön durchmassieren". Das reichte ihm als Belohnung. Die Aufgabe für den ERC ist vor Spiel vier am Freitag in Ingolstadt (19.30 Uhr) noch schwierig genug. Ronning bündelte es treffend: "In den Playoffs geht es darum, vier Spiele zu gewinnen." Dazu fehlen den Ingolstädtern immer noch drei.

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