Union Berlin bei Real Madrid:In einer bislang unbekannten Welt

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Zumindest die Attrappe ist schon in Berliner Händen: Christopher Trimmel (mit Pokal) feiert mit den Kollegen den Einzug Unions in die Champions League. (Foto: Oliver Behrendt/Contrast/Imago)

Das Königsklassen-Debüt von Union Berlin bei Real Madrid ist ein Meilenstein für den Hauptstadtklub - und ein Stresstest für die Identität. Schaffen es die Berliner, sich weiter zu steigern, ohne ihr Erfolgsrezept zu ändern?

Von Javier Cáceres, Madrid

Ein wenig beeindruckt wirkten die Mitglieder der Reisegruppe schon, als sie am Dienstag aus den Katakomben des Estadio Santiago Bernabéu traten. Der Blick der Spieler und Verantwortlichen des 1. FC Union Berlin ging unweigerlich die Tribünen hinauf, als sie zum Abschlusstraining antraten. Am Vorabend des Champions-League-Debüts des Klubs, für das man sich kaum eine größere Bühne und keinen größeren Gegner hätte aussuchen können als Real Madrid. "Du weiß als Spieler oder Trainer nicht, wie oft du hier spielen wirst", hatte Unions Trainer Urs Fischer gesagt, ehe er den Rasen betrat. Auch Präsident Dirk Zingler bekam etwas von dem Flair ab, der Real Madrid umweht. Denn am Rasen wurde er von Emilio Butragueno empfangen, einer früheren Real-Legende, die nun Teil des Vorstands von Real Madrid ist.

Am Dienstagmittag wird Zingler den Rest der Führung treffen, im Zalacaín, einem der teuersten Restaurants der Stadt. Aus innerster Überzeugung geht Zingler nicht mit: Er verpasst dadurch das zeitgleich stattfindende Spiel von Unions Nachwuchs, der um 14 Uhr im Estadio Alfredo Di Stéfano gegen Real Madrids Nachwuchs antritt. Was auch ein wenig über die Unterschiede der beiden Klubs erzählt. Während bei Union die Priorität im Zweifel noch immer Fußball heißt, kann man sich bei Real nicht so sicher sein - und das nicht nur, weil das Stadion gerade in eine ultramoderne Multifunktionsarena umgewidmet wird.

Nicht, dass Pérez kein Fußballfan wäre. Aber: Er empfängt nicht bloß Ehrengäste im VIP-Bereich des Stadions. Er hält Hof. Richter, Politiker, Gewerkschafter, Kleriker, Adlige, Unternehmer, Verbandsfunktionäre, Promis kommen dazu, und es geht dort so sehr um Geschäftliches (oder gleich um Geschäfte), dass Besucher einen Lebenslauf einreichen müssen und Minderjährige keinen Zutritt haben. Dass derlei jemand hinterfragt, ist zumindest in Spanien ausgeschlossen.

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Es ist halt Real Madrid, 14-maliger Sieger der wichtigsten Klubtrophäe des Weltfußballs, Träger schwanenweißer Trikots, sentimentale Heimat ganzer Sagen von Blaublütern des Fußballs wie Di Stéfano, Puskas, Gento, Del Bosque, Stielike, Juanito, Santillana, Sanchís, Hierro, Zidane, Benzema, Courtois, Modric und dem erfolgreichsten deutschen Fußballer, Toni Kroos. Womit man bei den Gemeinsamkeiten zwischen Union und Real ankommt.

Union hat von Januar 2016 bis Sommer 2020 ja auch einen Kroos in seinen Reihen gehabt, Felix Kroos. Er ist diesmal sogar Teil der offiziellen Delegation der Köpenicker - und somit einer der wenigen Unioner mit Bernabéu-Erfahrung.

Kroos, 32, war schon bei der offiziellen Präsentation des Bruders nach Deutschlands WM-Sieg 2014 auf der Ehrentribüne dabei. Was er den Unionern nicht nehmen kann: das Gefühl, ihr historisches Champions-League-Debüt an einem Ort zu geben, wo die "szenische Angst" grassiert, wie es der argentinische Fußballphilosoph Jorge Valdano einmal formuliert hat, der einstige Spieler, Trainer und Manager bei Real Madrid.

"Es wäre doch schlimm, wenn Vorfreude und Aufregung nicht da wären", sagt nun Felix Kroos der SZ, "selbst ich bin etwas aufgeregt." Es sei nur schwer zu beschreiben, was da auf einen einströmt. "Es ist auch für mich jedes Mal ein ganz besonderes Feeling, dieser Begriff Mythos passt einfach total. Wenn man vor Ort ist, weiß man, was gemeint ist."

"Die Entwicklung ist im Rücklauf immer noch schwer zu erklären", sagt Felix Kroos

Mehr als an jedem anderen Ort der Fußballwelt werden sich die Unioner wohl 90 Minuten lang den Gedanken vorbeten müssen, dass das Feld genauso groß ist wie in der Alten Försterei und im Bernabéu auch nur zwei Tore stehen, elf Spieler gegen elf weitere spielen, der Ball rund ist. Auch wenn Real Madrids Trainer Carlo Ancelotti am Mittwoch voll des Lobes für eine "sehr solide, gut organisierte Mannschaft" war, die "sehr intensiv" spiele und sich die Champions League verdient habe, und so sehr Toni Kroos im Podcast "Einfach mal luppen", den er mit seinem Bruder produziert, vor den Köpenickern öffentlich warnte - der Qualitätsunterschied ist nicht wegzudiskutieren.

"Wie schaffen sie es, gerade zum Anfang des Spiels ihre Identität auf dem Platz zu kriegen?", das sei die Schlüsselfrage, argumentiert Felix Kroos. "Wenn sie das in Perfektion schaffen, heißt es immer noch nicht, dass sie einen Punkt holen. Aber die Art und Weise des Spiels wird es auf jeden Fall beeinflussen." Und es bleibt ja dabei: dass Union es überhaupt bis in den wichtigsten Klubwettbewerb der Welt geschafft hat, bleibt ein Meilenstein.

"Die Entwicklung war nicht abzusehen, und im Rücklauf ist sie auch immer noch schwer zu erklären", sagt Kroos, der 2019 zu Unions Aufstiegsmannschaft gehörte. "Das ist eine Story, die man im Fußball ganz, ganz selten erlebt hat. Und es ist für mich immer noch ein besonderes Gefühl, aktiver Teil davon gewesen zu sein."

Das Faszinierende an Union bleibt auch in den Augen von Felix Kroos, dass sie sich in jedem Jahr graduell verbessert, aber im Kern kaum verändert haben - auch wegen der Arbeit von Trainer Urs Fischer. "Ich glaube, ich könnte immer noch sagen, wie der Trainingsalltag bei denen aussieht, was sie am Montag, Dienstag und Mittwoch machen", sagt Kroos. Was das ist? Immer wiederkehrende Studien der eigenen Abläufe - und eine akribische Vorbereitung auf den Gegner. Videositzungen können schon mal lang geraten. "Urs, nach 20 Minuten hört dir doch keiner mehr zu!", habe er Fischer mal gesagt, erinnert sich Kroos. Fischer habe geantwortet: "Wenn nur einer einen Gedanken mitnimmt, den ich nach mehr als 40 Minuten ausbreite, kann das spielentscheidend sein."

Unaufgeregt und mit Weitblick: Unions Erfolg ist maßgeblich mit Trainer Urs Fischer verknüpft. (Foto: Andreas Gora/dpa)

Die Resultate sprechen für sich. "Die mannschaftliche Bewegung ist harmonisch, weil jeder weiß, wo er zu stehen hat und wo er nachzuschieben hat, aber auch, weil jeder weiß, was der Mitspieler macht und wo der steht. Das sieht man einfach." Unabhängig davon, wer auf dem Platz steht.

Das bleibt, angesichts der jährlichen Umbrüche bei Union, ein weiteres Faszinosum. Auch in dieser Saison gab es wieder zig Wechsel, doch das fiel nicht ins Gewicht, weil die Scouting-Abteilung um Manager Oliver Ruhnert "ein klares Profil für eine Position definiert" und die Spieler verpflichtet, die diesem Profil entsprechen, "egal, wie sie heißen". So blieb das defensive Fundament tragfähig; die Mittelachse ist durch den verletzungsbedingten Ausfall von Rani Khedira auch deshalb nicht gestört, weil Alex Kral hinzugekommen ist, der die Vakanz auf der Sechserposition ausfüllt, und auf den Außenbahnen agieren in den Nationalspielern Robin Gosens (Deutschland) und Josip Juranovic (Kroatien) hinreichend belastbare Figuren.

Auf der Bank saß zuletzt auch noch ein gewisser Leonardo Bonucci, der "seit 20 Jahren, übertrieben gesagt, nichts anderes macht, als Champions League zu spielen", sagt Kroos. Und der vermutlich spielen wird, weil sich Abwehrchef Robin Knoche verletzt hat. Er werde helfen, da ist sich Kroos sicher, vielleicht schon im Bernabéu. Dann vor den Augen von Zingler und Pérez.

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