Champions League: Stuttgart siegt:Ein bisschen Magie

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Der VfB Stuttgart entwickelt sich zur seltsamsten Mannschaft des Universums - mit einem Trainer, der Magie mitbringt und einem Torwart, der während des Spiels pinkelt.

Thomas Hummel, Stuttgart

Ob es das magische Bonbon ist, dass Christian Gross mit hektischen Unterkieferbewegungen lutschte? Vielleicht der magische schwarze Mantel, der diesen bulligen Mann eng wie eine Wursthaut umhüllte? Oder doch die magische Glatze, die durchs ganze Stadion blinkte? Die Menschen in Stuttgart sahen den 55-jährigen Schweizer nach seinem ersten Pflichtspiel als Trainer verwundert hinterher. Was hatte dieser Mann in drei Tagen angestellt? Hatte er die Spieler verwandelt?

Christian Gross: ein bisschen Magie in Stuttgart. (Foto: Foto: ddp)

Die Frage flog ihm auch bald zu nach dem 3:1-Erfolg gegen Unirea Urcizeni und dem Einzug ins Achtelfinale der Champions League, als er im Presseraum des Stadions saß. Wäre aus dem schmucklosen Betonsaal in diesem Moment ein barockes Prinzenzimmer geworden, es hätte sich kaum einer gewundert. Doch Gross beließ es bei dem schmucklosen Presseraum und blickte zum Fragesteller: "So gut kenne ich die Spieler nicht wie sie."

Das war es also. Christian Gross hat am Sonntag den unglücklichen Markus Babbel als Trainer des VfB Stuttgart abgelöst, ohne sich zu genau zu informieren über den Zustand seiner neuen Profis. Er wusste also nicht, wie stocksteif Pawel Pogrebniak über den Platz gewankt war, wie hoffnungslos torungefährlich Ciprian Marica gegnerische Strafräume besucht hatte, wie ungern die Abwehrspieler ihren Gegnern zu nah kamen. "Er hat uns eingeredet, dass wir das Spiel gewinnen werden", berichtete Serdar Tasci. Gross selbst führte aus: "Ich bin auf die zugegangen und habe ihnen gesagt, was sie gut können." So einfach ist das.

Nach drei Minuten zeigte Marica, dass er gut köpfen kann - 1:0. Nach acht Minuten zeigte Christian Träsch, dass er über den halben Platz hetzen und danach den Ball aus 16 Metern an den Innenpfosten dreschen kann - 2:0. Nach elf Minuten zeigte Pogrebniak, dass er im Strafraum zwei Gegenspieler ausspielen und notfalls auch zur Seite schieben und dann auch noch dem Torwart den Ball durch die Beine schieben kann - 3:0. Die 37.000 Zuschauer rissen nach den Toren kurz die Arme hoch, drehten sich einander zu und schüttelten mit dem Kopf. Einige machten den Scheibenwischer, schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, sie lachten, weil die Absurdität der Ereignisse nichts anderes mehr zuließ.

Im Video: "Wir können zum Glück noch Tore schießen". Spieler und Trainer des VfB Stuttgart zum Spiel gegen Unirea Urcizeni und die Situation in der Bundesliga.

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Der VfB Stuttgart entwickelt sich zur seltsamsten Mannschaft Deutschlands - ach was, des Universums. 2007 wurde der Verein überraschend Deutscher Meister, danach stürzte er überraschend ab, bis Meistertrainer Veh gehen musste. Mit Nachfolger Babbel stürmte Stuttgart bis in die Champions League, danach stürzte der Verein ab, bis Babbel gehen musste. Vor allem, weil der Angriff ohne des verkauften Mario Gomez nicht mehr wusste, wie man ein Tor erzielen kann. Mit Nachfolger Gross stellte die Mannschaft unverzüglich einen neuen Rekord des am schnellsten herausgeschossenen 3:0-Vorsprungs in der Champions League auf.

Die Mannschaft des VfB Stuttgart scheint abhängig zu sein von regelmäßig neuen Impulsen - vielleicht sollte der Verein seine Trainer künftig nur noch mit Drei-Monats-Verträgen ausstatten. "Er hat neue Ideen, eine neue Ansprache, er bringt frischen Wind", sagte Sami Khedira über Gross. Aus dem Verein ist zu hören, dass der bullige Schweizer deshalb geholt wurde, um den verständnisvollen Babbel mit einem kompromisslosen starken Charakter zu ersetzen. Allein schon Gross' Aura eines ehemaligen Preisboxers dürfte beim VfB die Atmosphäre verändert haben, die Wucht seines Äußeren hat seine Spieler wohl dazu veranlasst, ihm einfach zu folgen: "Ich habe den Spielern gesagt, es darf nie einen Zweifel geben, wer das Spiel gewinnt."

Doch auch Christian Gross musste nach der irrwitzigen Anfangsphase sehen, welch schrulligen Haufen er da übernommen hat. Er sah den hektischen Zirkusdribbler Timo Gebhart, den Aussetzer von Arthur Boka vor dem 1:3, er sah eine Mannschaft mit der Neigung zum Chaos (vor allem nach der Auswechslung des überragenden Rückkehrers Khedira) - und er sah seinen Torwart, der während des Spiels über die Bande hüpfte, um zu pinkeln.

Graben zwischen Fans und Spielern

Auch der Schweizer konnte nicht alle Gräben und Klüfte in diesem Verein binnen drei Tagen beheben. Vor dem Spiel hatte eben jener Torwart Jens Lehmann in einem Interview so ziemlich jeden angegriffen, der irgendwas mit dem Klub zu tun hat. Indirekt warf er dem Vorstand vor, Babbel nur wegen der Randale am Samstag rund um das Bochum-Spiel entlassen zu haben. Dass ihm Trainer Gross das Sonderrecht nahm, mehr freie Tage zu genießen, kommentierte er: "Aus meiner Erfahrung im Fußball sollte man immer sehen, dass man den Schwachen im Verein zuhört, aber nie das macht, was die Schwachen verlangen, weil man dann keinen Erfolg haben wird." Sportdirektor Horst Heldt wirkte sehr verärgert: "Kein Spieler ist wichtiger als der Verein."

Gross musste auch erkennen, dass zwischen Spielern und Fans nach den Vorkommnissen am Samstag ein Graben liegt. Nach dem Schlusspfiff bewegten sich die Spieler zunächst nicht in Richtung Kurve, nach einigen Pfiffen gingen sie zögerlich ein paar Meter, um bald umzudrehen. Fans vor allem aus der Ultra-Gruppierung Commando Cannstatt hatten die Spieler am Samstag bedroht und den Mannschaftsbus blockiert. "Das war sicher nicht okay, totaler Blödsinn. Und das werden die Fans auch irgendwann einsehen", sagte Khedira.

Doch auch dies, das bezweifelte an diesem Abend niemand, wird der Christian Gross hinbiegen. "Ich habe niemanden gesehen, der sich heute im Stadion nicht gefreut hat", bemerkte Gross. Warum das so war? Jens Lehmann gab dazu nach dem Spiel einen sachdienlichen Hinweis: "Der neue Trainer hat vielleicht ein bisschen Magie mitgebracht."

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Thomas Hummel, Stuttgart

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