Mailänder Champions-League-Derby:Die neuen Prinzen von San Siro

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Sie nennen ihn Zitronenpresse: Nicolò Barella (links) von Inter Mailand gilt als Verheißung für den italienischen Fußball - wie sein ebenso talentierter Milan-Rivale Sandro Tonali (rechts). (Foto: Maurizio Borsari/Aflosport/Imago)

Milan muss im Duell um den Final-Einzug gegen ein schwebendes Inter und den 0:2-Rückstand ankämpfen. Im Mittelfeld messen sich zwei Italiener mit Vorbildformat: Nicolò Barella und Sandro Tonali sind der Stolz des Mailänder Calcio.

Von Oliver Meiler, Mailand

Klasse ist nicht aus Wasser, sagen die Italiener. Wahre Klasse fließt einem nicht durch die Finger, soll dieser Sinnspruch bedeuten, sie entwischt nicht so schnell wie banale Mittelmäßigkeit. Wenn es zählt, ist sie da und wiegt schwer.

Im Mailänder Fußball hat das Hinspiel im Halbfinale der Champions League vor allem eine schon lange gefestigte Gewissheit gezeigt: Inter hat mehr Klasse in seinen Reihen als der Stadtrivale AC Milan, und zwar ganz bis ans Ende der langen Spielerbank. Wahrscheinlich hat der FC Internazionale nominell überhaupt den besten Kader der laufenden Serie A, besser noch als Meister Napoli. Wenn das manchmal etwas vergessen ging in dieser Saison, dann lag das an der zwischenzeitlichen Amnesie der Mannschaft. In den Pokalwettbewerben, national und europäisch, war sie fast durchwegs stark, in der Meisterschaft dagegen insgesamt mittelmäßig. Da zerfloss die Klasse wie ein Sturzbach.

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Kommentar von Oliver Meiler

Inter gewann vor einer Woche sein Halbfinal-Auswärtsspiel im Stadio San Siro so überzeugend 2:0, mit Chancen für ein 4:0 schon zur Halbzeit, dass man sich in Mailand fragt, ob es noch eine Aussicht gebe, dass Milan dieses so genannte Euroderby im Rückspiel (Dienstag, 21 Uhr) noch kippt. Auch das Präludium spricht für Inter, es gewann am Wochenende in der Liga gegen Sassuolo 4:2 - während Milan in La Spezia gegen den Viertletzten der Serie A 0:2 verlor und dabei so kraft- und ideenlos wirkte, dass sich Spieler und Trainer danach einen schmachvollen, etwas grotesken Gang zur Tribüne ihrer mitgereisten Fans antaten, um sich von kahlrasierten Ultrachefs eine Standpauke anzuhören.

Die Tickets fürs Rückspiel in Mailand sind schon lange alle weg, als wäre alle Spannung noch drin. Zumindest die Interisti fürchten nicht, sich zu langweilen: 500 000 hätten gerne eine Karte gehabt, wo es doch im Stadion nur etwa 75 000 Plätze gibt.

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Natürlich, wenn dann der portugiesische Flügelspieler Rafael Leão, der bei Milan für ungefähr die Hälfte der Gesamtklasse steht, anders als vorigen Mittwoch wieder dabei und bei vollen Kräften wäre, dann ließe sich ein bisschen debattieren. Gerade hat er seinen Vertrag bis 2028 verlängert, für sieben Millionen Euro Jahresgehalt, das ist mehr, als er bisher erhielt. Aber Leão braucht Raum, um sich zu entfalten, mindestens ein paar Meter Rasen für den imposanten Antritt. Und Inter wird wohl alles dran setzen, ihm auf der linken Flanke jeden freien Zentimeter zu verwehren. Wenn es nur eine taktische Devise geben sollte, dann diese.

Der Damm steht jedoch im Mittelfeld, wo so viele Fußballspiele entschieden werden, und auch da ist die Klasse Inters überdeutlich - in Technik, Erfahrung, Power. Im Mittelfeld der beiden Mailänder Vereine stehen zwei italienische Spieler, die je für sich die Farben reflektieren, die sie tragen und die auch in der Nationalmannschaft als Verheißung für die Zukunft gelten: Inters Nicolò Barella, 26, Sarde aus Cagliari; und Milans Sandro Tonali, 23, Lombarde aus Lodi.

Beide waren schon als Kinder Fans ihrer Vereine. Einer von ihnen reduzierte sogar sein bereits versprochenes Gehalt, um seinen Liebestraum leben zu können. Und beide werden mit großen Vorbildern verglichen, obwohl sie selbst das Zeug zum Vorbild haben.

Barella wird mit einer Zitronenpresse verglichen. Im Keller hat er gute Weine liegen

Über Barella schrieb die Gazzetta dello Sport einmal, er sei wie ein wunderbares Produkt des italienischen Designs: funktional und elegant. Man muss dazu sagen, dass in Mailand gerade die Design Week lief, daher die Assoziation. Barella erinnert die Gazzetta an die berühmte Zitronenpresse von Alessi, einer gefeierten Marke für hübsche, mitunter exzentrische Küchen-Utensilien. Alessis Zitronenpresse, entworfen vom Franzosen Philippe Starck, steht auf stählernen Beinen und sieht aus wie eine Spinne, sie gilt als Design-Ikone.

Der Vergleich erklärt sich so: Für das Sportblatt presst der recht klein gewachsene Barella, 1,75 Meter groß, mit seinem dauerwirbligen Spiel zwischen Abwehr und Offensive sich selbst, seine Mitspieler und mithin seine Gegner aus wie Zitronen. Bis kein Saft mehr drin ist. Das ist seine funktionale Seite: Er läuft hin und her, von Box zu Box, fängt Bälle ab, kreuzt Lauflinien. Doch weil Barella im Umgang mit dem Ball ästhetische Ansprüche an sich stellt, schießt er auch spektakuläre Tore, gerne akrobatisch ausgeführt. Man verglich ihn schon mit Gianfranco Zola, ebenfalls Sarde, oder mit Marco Tardelli, einem der Helden der WM 1982 in Spanien.

In seinem Gestus ist Barella oft eine Diva, er verwirft ständig die Arme, wenn er auf dem Platz übersehen oder nicht präzise bedient wurde. Das Gebaren geht den Kollegen regelmäßig auf die Nerven, zumal den Starspielern im Team. Aber Barella ist jetzt selbst ein Star. Groß wurde er in der Fußballschule Gigi Riva in einem Vorort von Cagliari. Der grandiose Riva, Stürmer von Cagliari und der Nationalelf in den 1960er- und 70er Jahren, ist ein Lokalheiliger in Sardinien. Barella zollt ihm bei jeder Gelegenheit Tribut, und Riva, heute 78, sendet immer nette Worte zurück.

Barella ist Vater von drei Töchtern. Seine Frau, ein früheres Fotomodell, ist sieben Jahre älter als er, auch sie ist Sardin. Er mag große Weine, im Keller sollen 500 tolle Flaschen liegen, viele sardische. Interista ist Barella, weil sein Vater Interista ist, seine Onkel, fast die ganze Verwandtschaft. Seit vier Jahren spielt er für Inter, und der Verein sieht in diesem Sarden eine Schatzinsel. Dass Inter nun kurz vor dem Final-Einzug steht, liegt auch an den zwei Toren Barellas gegen Benfica Lissabon im Viertelfinale.

Tonali ähnelt Pirlo, er selbst sieht sich eher wie ein "Gattuso mit viel Technik"

Sandro Tonali vom AC Milan musste sich einige Jahre lang gegen einen Vergleich wehren, der nett gemeint war, aber nur leidlich passte: Alle nannten ihn den "neuen Andrea Pirlo". Die Haare, das stimmt, trug er lange Zeit ähnlich wie der Maestro. Sein Körperbau erinnert an den von Pirlo, der Gang, auch die Stimme: dasselbe tiefe Timbre. Und wie Pirlo redet Tonali nicht so gerne vor Mikrofonen und Kameras, in sozialen Medien ist er kaum präsent. Beide sind ausdrücklich reserviert in der Öffentlichkeit.

Sportlich vergleichbar ist vielleicht Tonalis Position auf dem Platz: Wie einst Pirlo gibt er meist den tief stehenden Regisseur, den Wischer und Ballverteiler vor der Defensive. Zuweilen schiebt ihn Trainer Stefano Pioli aber weit nach vorne, damit er direkt in die Offensive eingreifen kann. Auch im Hinspiel gegen Inter war das zu beobachten: Die gefährlichste Aktion der Milanisti ging von Tonalis Fuß aus, ein satter Schuss an den Pfosten.

Als man Pirlo einmal fragte, ob Tonali sein Erbe sei, sagte er: "Nein, er ist kompletter, als ich es war, ein anderer Spielertypus. Und er ist derzeit sicher der vielversprechendste Mittelfeldspieler in Italien."

Es ist nicht sicher, ob das den Druck auf den 23-Jährigen verringert hat. In Italien reden sie den Nachwuchs immer schnell sehr groß, um sich dann zu wundern, dass manche Junge die fremden Erwartungen nicht erfüllen. Als Tonali klein war und Fan von Milan, war Gennaro Gattuso sein Idol: ein Arbeiter vor dem Herrn, mit Schwielen an Füßen und Ellbogen. Dessen Ethos imponierte ihm. Nun nennt man ihn zuweilen auch "Gattuso mit viel Technik", und mit dieser Beschreibung kann er gut leben, wie er einmal sagte.

Tonali wollte immer zu Milan, in der Jugend hatte er für Lombardia 1 gespielt, einen Satellitenverein der Rossoneri. In Brescia wurde er Profi, das Debüt in der Serie B gab er mit 17. Als sich dann große Klubs um ihn bemühten, unter anderem Juventus Turin und Inter, dazu ein paar englische, wartete er geduldig, bis sich endlich auch Milan meldete - und ging dahin, wo ihn das Herz hinführte. Die Anfänge waren nicht einfach, der Verein hatte auch finanzielle Nöte. Tonali verzichtete auf einen schönen Teil seines Gehalts, um bleiben zu dürfen - von 1,6 auf 1,2 Millionen Euro. Mittlerweile verdient er viel mehr, er ist ja auch richtig angekommen, ein Leader mit Zukunft, Meister mit Milan war er auch schon.

Aber die Fans vergessen seine Geste mit dem Salär nicht. Tonali ist so einer wie Gattuso, wie Pirlo, wie Paolo Maldini, wie Franco Baresi - ein langjähriger Lebensabschnittspartner für Milan. Aber ob sich das Euroderby nun noch drehen lässt oder eben eher nicht: Klasse zerrinnt nicht.

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