Champions League:Atlético, das Monster mit den vielen Köpfen

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Nur zu ihren Teamkameraden sind sie lieb: Die Atlético-Leistungsträger Koke (links) und Ángel Correa. (Foto: Getty Images)

Atlético Madrid spielt das beste Pressing im Weltfußball. Das gelingt ihnen ausgerechnet gegen starke Mannschaften wie den FC Bayern am besten. Was muss Pep Guardiola tun?

Von Martin Schneider, Madrid

Natürlich kann niemand seriös darüber Statistik führen, wer in der Welt am häufigsten Fußball schaut, aber wenn man Javi Martínez glaubt, dann ist Pep Guardiola in diesem Ranking weit vorne. "Dutzende Spiele" werde Guardiola von Atlético Madrid schauen. Vor Kurzem sprach der Baske Martínez mit dem Sender ESPN über die wöchentliche Arbeit mit dem Katalanen Guardiola. "Wir starten mit einer Idee in die Woche und bereiten uns aber auch darauf vor, dass diese Idee im Spiel nicht funktioniert."

Welche Idee das gegen Atlético sein wird, ist vielleicht die spannendste Frage in der Trainerzeit von Guardiola beim FC Bayern. Das Los hat ihm im Champions-League-Halbfinale den härtesten Gegner beschert. Eine Mannschaft, die taktisch am schwierigsten zu knacken ist. Atlético in zwei Spielen zu schlagen, das wäre Guardiolas Meisterstück beim FC Bayern.

Diego Simeone, der Trainer von Atlético, hat im Süden von Madrid über die Jahre ein Monster nach seinem Bilde erschaffen: eine Mannschaft mit dem besten Pressing im Weltfußball. Ein Team, das im Angriff ist, obwohl es nicht den Ball hat. Eine Spitzenmannschaft mit Außenseiterfußball, der so unglaublich unangenehm ist, weil er auch dann funktioniert, wenn ihn der Gegner zuvor bis ins Detail durchanalysiert hat.

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Gegen starke Mannschaften funktioniert das Atlético-System noch besser

Man muss sich Atlético wie eine rot-weiß Hydra vorstellen. Bayern wird in der Abwehr den Ball haben und je nach System werden vier, fünf, sechs, manchmal auch zehn Madrider Köpfe nach vorne schnellen und den Ballführenden attackieren. Andere Köpfe werden den Bayern die Passwege versperren. Wer in so einer Situation von einem Kopf gebissen wird oder aus Angst etwas Dummes mit dem Ball anstellt, der verliert.

Früher hatte Atlético ein Verteidigungssystem, mittlerweile variieren sie in der Defensive, wie es Guardiola gerne in der Offensive tut. Gegen Barcelona im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League agierte Atlético im 4-4-2, griff zunächst selbst Torwart ter Stegen an, zog sich später an die Mittellinie zurück und attackierte von dort. Noch später wurde das Pressing zu einem kompakten Block in der eigenen Hälfte, und an allen Varianten scheiterte die vermutlich spielstärkste Mannschaft der Welt. Und schied aus.

16 Gegentore in 35 Ligaspielen zeigen, womit die Bayern es hier zu tun haben. Und gegen gute Mannschaften funktioniert das Madrider System besser als gegen schlechte. Gegen den PSV Eindhoven brauchte Atlético im Achtelfinale das Elfmeterschießen, um weiterzukommen. Dazu kommt das entnervende, das ständige Provozieren durch faire und unfaire Mittel. Wer darauf hereinfällt, dem geht es wie Barcelona beim ersten Gegentor im Rückspiel. Der Ball wird aus einer bedrängten Situation halbherzig in die gefährliche Zone im Zentrum geklärt, Atléticos Routinier Gabi ist aufmerksamer und besser positioniert als das Barca-Mittelfeld, er bekommt den Ball, leitet ihn weiter, technisch perfekte Flanke. Tor.

Das alles passiert mit der kollektiven Präzision eines Fischschwarms und der Aggressivität von tollwütigen Höllenhunden. Wer sich bei Simeone nicht in jeden Zweikampf wirft, als wäre es sein letzter, wird vom Trainer persönlich roh gefrühstückt.

Dazu kommt: Bayern München hat Probleme gegen diese Art von Fußball - große Probleme. Als Turin in der ersten Halbzeit in München radikales Pressing spielte, schossen sie zwei Tore und eigentlich erzwangen sie auch ein drittes, das ihnen fälschlicherweise aberkannt wurde. Das Team, das Atlético in der Bundesliga taktisch am ähnlichsten ist, ist Bayer Leverkusen unter Roger Schmidt. Gegen den hat Guardiola eine vergleichsweise miserable Bilanz. Von den vergangenen vier Spielen hat Bayern nur eins nach 90 Minuten gewonnen, dazu ein Spiel im Pokal glücklich nach Elfmeterschießen. Zudem nahm Schmidt Bayern mal mit Salzburg 3:0 auseinander ( wenn auch nur in einem Vorbereitungsspiel).

Wer gegen Bayern mauert, den nehmen die Münchner normalerweise langsam und routiniert auseinander. Und wer schlechtes Pressing spielt (wie Stuttgart), der bietet Douglas Costa und Kingsley Coman Räume an, die genutzt werden. Wenn man ihnen aber clever auf den Füßen steht, kriegt Peps Passmaschine Probleme.

Neuer macht den Spielaufbau? Das wäre selbst für Guardiola zu radikal

Was also tun? Es gibt ein paar taktische Möglichkeiten gegen diese Art von Fußball. Etwa eine Dreierkette in der Abwehr, die mit zwei zusätzlichen Außenverteidigern zu einer Fünferkette werden kann. Drei Verteidiger sind schwerer anzulaufen als zwei. Oder der Sechser lässt sich in die Abwehr zurückfallen und sorgt so für eine zusätzliche Anspielstation (was den gleichen Effekt wie eine Fünferkette hat). Dass Manuel Neuer ein ballsicherer Torhüter ist, ist kein Nachteil, aber ihn den Spielaufbau machen zu lassen, wäre selbst für Guardiola zu radikal.

Das sicherste Mittel gegen unangenehme Ballverluste ist: lange Bälle schlagen. Und da fehlt den Bayern Jérôme Boateng sehr. Der überwand in der Hinrunde Borussia Dortmunds Pressing mit seinen 50-Meter-Pässen, in Madrid wird er wegen seiner monatelangen Verletzungspause aller Voraussicht nach nicht von Beginn an spielen (außer er ist gesünder, als alle denken, und Guardiola hat über die vergangene Woche mit diesem Kniff gepokert). In jedem Fall muss Bayern Ballverluste im Zentrum vermeiden - auch, wenn dann ein unansehnliches Spiel dabei herauskommt.

Leverkusen versuchte vergangenes Jahr gegen Atlético, Pressing mit Pressing zu bekämpfen. Das Ergebnis war ein Fußballspiel wie eine Runde Autoscooter, ständig knallte irgendwer gegen irgendwen, aber immerhin zwang Leverkusen den Favorit in ein Elfmeterschießen. Das wird Bayern kaum tun, Guardiola ist in seinem Ansatz pragmatischer geworden, aber er will immer noch den Ball haben. Genau das ist aber die beste Voraussetzung für Atléticos Fußball und das große Problem, das der Bayern-Trainer, vom dem viele sagen, er sei der taktisch Beste der Welt, lösen muss.

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