Bergamo in der Champions League:Das Herz der Göttin löst sich auf

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Der Göttin verfallen: Fans von Atalanta aus der Curva Nord. (Foto: Italy Photo Press/HochZwei/Imago)

Der Provinzklub Atalanta Bergamo hat sich in der europäischen Elite etabliert. Ausgerechnet jetzt zerfällt die legendärste und berüchtigtste Fangruppierung. Warum, ist noch unklar - doch es gibt einige plausible Thesen.

Von Oliver Meiler, Rom

Märchen haben in aller Regel kurze Halbwertszeiten, gerade im Sport. Dauern sie länger, werden sie erwachsen, und dann sind sie keine Märchen mehr. Der Provinzverein Atalanta aus Bergamo in der Lombardei, nur 50 Kilometer von Mailand entfernt und doch Welten weg, erlebt nun schon seit einigen Jahren eine wundersame und wunderliche Blüte - die beste Zeit in seiner Geschichte, in 114 Jahren also.

Atalanta war früher ein mittelmäßiger Klub, oft fand man sich auch in der Serie B wieder. Zuletzt wurde er aber dreimal nacheinander Dritter in der Serie A und qualifizierte sich jeweils direkt für die Champions League. Im vergangenen Jahr stand die "Dea", wie man Atalanta wegen der Göttin mit dem wehend wallenden Haar in ihrem Wappen nennt, sogar unter den acht Finalisten in Lissabon. So gar nicht provinziell.

Dennoch umweht dieses Team noch immer der unwiderstehliche Charme eines zufällig erfolgreichen Underdogs mit einer irgendwie sympathischen Strahlkraft. Hip und hipsterig, wenigstens sieht man es im Ausland so. Fast schon ein Kultklub. Das muss den Bergamasken besonders kurios vorkommen. In Bergamo und der Bergamasca, der Gegend rund um die Stadt mit ihren Tälern und industriellen Dörfern, sind sie vielleicht so weit weg von Kultgläubigkeit wie sonst nirgends in Italien, vom Hipstertum ganz zu schweigen. Die Bergamasken sind stolz auf ihr No-Bullshit-Arbeitsethos, auf ihre Bodenständigkeit, die sie auch von den etwas blasierten Mailändern unterscheidet. Die "Dea" soll diese Identität immer spiegeln, egal, auf welchem Spielniveau.

Spielmacher "Papu" Gomez musste nach einem Streit mit Trainer Gasperini den Klub verlassen

Aber klar, der Erfolg ist süß. Und der kam mit Gian Piero Gasperini, Trainer seit 2016. Der Piemonteser, 63 Jahre alt, ist kein sonderlich verträglicher Zeitgenosse unter dem Herrn. Er legt sich gerne mit allen an, Schiedsrichtern und Medien, mit Trainerkollegen, auch mal mit den eigenen Spielern. Der argentinische Mittelfeldmann Alejandro "Papu" Gomez, lange Zeit unersetzbar als Regisseur in Gasperinis unerhört offensivem und schnellem Spielsystem, verließ den Verein vor einem Jahr nach einer offenbar nur knapp verhinderten Schlägerei mit dem Trainer in der Garderobe. Wer wen schlagen wollte (oder schlug), ist noch immer nicht schlüssig geklärt, zumindest nicht öffentlich. Danach hieß es, nur einer werde bleiben können: "Papu" oder "Gasp"?

Streitbarer Kopf: Atalanta-Coach Gian Piero Gasperini. (Foto: José Jordan/AFP)

Das fortwährende Siegen gibt Gasperini natürlich recht. Die Matrix seines Spiels ist mittlerweile tief verinnerlicht, sie funktioniert wie eine Schablone für neue Spieler. Meistens sind es einigermaßen Namenlose, die Atalanta zu sich holt. Es zählt nur die Funktionstüchtigkeit, sie müssen einfach in die Schablone passen. Und sie müssen stürmen können, auch die Verteidiger. Gasperini befiehlt seinen Spielern die überfallartige Offensive: Einer steht dann immer frei und trifft das Tor. Besonders spektakulär gelingt das dem Ukrainer Ruslan Malinovskyi, 28 Jahre alt, einem Mittelfeldspieler mit einem linken Donnerfuß. Geholt hatte man ihn vom belgischen Erstligisten Racing Club Genk vor zwei Jahren. In Europa trifft nur Leo Messi noch öfter per Weitschuss als dieser Ruslan Malinovskyi. Im jüngsten Meisterschaftsspiel gegen Inter überragte er alle, und das lag nicht nur an diesem ansatzlos getretenen Wuchtball aus zwanzig Metern zur zwischenzeitlichen Führung, den die Gazzetta dello Sport so beschreiben sollte: "Er schickte den Ball mit einer Ohrfeige auf eine verrückte Flugbahn."

Manchmal passen Neue so perfekt in Gasperinis System, dass sie auch der viel kaufkräftigeren Konkurrenz auffallen. Den Innenverteidiger Christian Romero etwa - wahrscheinlich der beste Defensivmann in Italien der vergangenen Spielzeit - konnte man nur ein Jahr in Bergamo halten. Im Sommer kam Tottenham Hotspur und bot 50 Millionen Euro. Mit 50 Millionen lässt sich ja einiges anstellen. Atalanta, im Besitz des bergamaskischen Unternehmers und ehemaligen Fußballers Antonio Percassi, geht es auch wirtschaftlich relativ gut.

In den vergangenen Jahren halfen die Mitglieder der Kurve überall, wo Not am Man war. Jetzt sind die alten Rivalitäten zurück

Ausgerechnet in dieser Epoche also, da für Atalanta endlich alles zusammenpasst, hat sich nun vor ein paar Tagen die Fangruppe "Curva Nord Pisani" aufgelöst, benannt nach dem 1997 tragisch verunfallten ehemaligen Spieler Federico "Chicco" Pisani. Sie war die legendärste und berüchtigtste von allen, das Herz im Ultrablock der Nordkurve des frisch umgebauten Stadions. Warum sie aufhören, ist nicht klar. Doch einige plausible Thesen gibt es schon.

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Von Oliver Meiler

Die Ultras von Atalanta, muss man dazu wissen, gehörten lange zu den gewalttätigsten im ganzen Land, gefürchtet überall, vor allem in den 1990ern. Vor 23 Jahren schaffte es einer ihrer Chefs, Claudio Galimberti, den sie "il Bocia" ("der Junge") rufen, mehrere rivalisierende Fraktionen der Curva Nord in einer Gruppe zu vereinen. Alles durchorganisiert, sie hatte nun ein Leitungsgremium, zu dem sie "Direttivo" sagten, als wäre sie die Spitze eines Großkonzerns. In diesem Fanverband machten alte Hitzköpfe mit, aber auch viele Leute mit Herz. So sah man die "Ragazzi" von der Curva Nord nun oft als Helfer nach Erdbeben und Überschwemmungen, wie sie neben den Zivilschützern und der Feuerwehr nach Überlebenden suchten, Trümmer und Schlamm wegräumten. Als die Pandemie begann, die Bergamo so dramatisch traf, halfen sie freiwillig beim Bau eines Feldhospitals auf dem Messegelände: Dutzende Schreiner und Flachmaler meldeten sich auf einen Aufruf auf Facebook hin, sie trugen Trikots von Atalanta oder Kapuzenjacken der "Nord". Während des Lockdowns kauften die Ultras Lebensmittel für die Betagten ein und brachten sie ihnen nach Hause. Diese gelebte Solidarität passte gut zur Stadt, sie wurde zum Symbol.

Aber da gab es auch eine andere, weniger schöne Seite. Der charismatische "Bocia" war immer ein Maximalist. Als in Italien vor zehn Jahren die "Tessera del tifoso", der Fanpass, und die Namentickets für den Zutritt ins Stadion eingeführt wurden, blitzte die alte Gewaltbereitschaft auf. Sie entlud sich an einem Anlass der Lega Nord in Alzano, an dem auch hohe Parteimitglieder dabei waren, unter anderem der damalige Innenminister Roberto Maroni. Der hatte die Neuerungen beschlossen. Vertreter der "Curva Nord" kamen mit Molotowcocktails, ein Tiefpunkt in der an Tiefpunkten nicht gerade armen Geschichte des italienischen Hooliganismus.

Galimberti sammelte über die Jahre so viele Verbote und Sperren, dass er sich zurückzog und nun als Muschelzüchter an der Adria arbeitet. Der Verbindende ist weit weg, die Rivalitäten sind zurück. Zuletzt überwarf man sich, weil manche wieder ins Stadion gehen wollen, jetzt, da man das nach eineinhalb Jahren endlich wieder darf, während die Hartgesottenen erst zurückkehren werden, wenn die Regierung alle Plätze freigibt. Im Moment dürfen die italienischen Sportarenen nur bis zur Hälfte der Kapazität gefüllt werden. "Tutti o nessuno", sagen die Ultras, alle oder niemand. Und verpassen so noch etwas mehr vom schönen Märchen ihrer Göttin.

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