Bundesliga:Der Norden funkt SOS

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Hamburger SV und Werder Bremen: Vier Mal trafen sie in der Endphase der Saison 2008/09 aufeinander, wie hier im Uefa-Cup (Foto: imago sportfotodienst)

Werder Bremen und der Hamburger SV müssen alles geben, nur um in der Relegation den anderen vielleicht wieder über Bord zu schubsen. Über die Not zweier alter Rivalen.

Von Ralf Wiegand

Man muss nicht gleich tief zurück in die Geschichte, nicht bis zur Gründung der Hanse, in der alles angelegt ist, was Hamburg und Bremen ausmacht. Aber man kann es ja mal versuchen: Die Städte teilen ihren unbedingten Willen zur Freiheit, zur Neutralität, sie haben kluge Kaufleute, sie wissen, wie man die Welt bei sich zu Hause begrüßt und auch, wie man den Weg findet hinaus in die Welt, mit dem Schiff. Bürgertum erschöpft sich nicht als politisch missbrauchte Begrifflichkeit, Bürgertum hat in den Hansestädten noch etwas mit Werten zu tun. Mit dem Handschlag, der gilt. Mit dem Gemeinwohl, für das alle sorgen sollen, die Bürger sein wollen. Mit Toleranz und Distanz - ein Moin genügt, aber weniger sollte es auch nicht sein. Natürlich verschwindet auch im Norden all das immer mehr, wie so vieles unsichtbar zu werden scheint, was die Gesellschaft zusammenhält. Aber wer jemals einen Hamburger hat Hamburg lieben sehen, jemals einen Bremer von Bremen hat schwärmen hören, weiß, was gemeint ist.

Vielleicht sollte man das im Kopf haben, wenn man sich den sportlichen Schicksalen des Hamburger SV und des SV Werder Bremen nähert. Zwei Unterhaltungsbetriebe der Fußballbranche funken SOS, so nüchtern kann man das betrachten. Ein jahrelanger Niedergang hat sich am einen Ort nur schneller vollzogen als am anderen. Hamburg ist schon in der zweiten Liga und bleibt dort vielleicht noch länger als je befürchtet. Und der SV Werder hat den Anker auch schon ausgeworfen in den gefährlichen Gewässern von Liga zwei, er könnte am Samstag den Grund erreichen.

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Die Schleife, die der Fußball an diese komische Saison zu binden gedenkt, ist schwarz. Werder kämpft oben um die Relegation, muss Drittletzter der Bundesliga werden, um noch eine allerletzte Chance zu bekommen. Der HSV braucht tags darauf Platz drei in der zweiten Liga, um noch an den Aufstieg glauben zu dürfen. Gelingt es beiden, wären die ewigen Rivalen wieder für zwei Spiele vereint - zwei Spiele, die allerdings nur dazu dienten, den anderen gleich wieder in den Abgrund zu stürzen. Nur fundamentalistische Fußballgläubige können einen höheren Sinn darin erkennen, dass es - egal, was passiert - zwischen Werder und dem HSV bestenfalls nur einen Sieger geben kann, wahrscheinlich aber gar keinen geben wird. Wer könnte das nüchtern betrachten?

Florian Kohfeldt, 37, kann es nicht. Nach der Niederlage in Mainz war der im Bremer Umland aufgewachsene Trainer des SV Werder niedergeschlagen wie noch nie in seiner zweieinhalbjährigen Tätigkeit. "Ich kann keine Zuversicht mehr verbreiten", sagte er vor einer Woche, er sei "leer". Am Freitag schaute er etwas erholt zurück auf diesen "bislang schwierigsten Moment" als Trainer, der nach dem 1:3 halt auch nur von enttäuschten Erwartungen übermannt worden war. Hätte er das nicht gezeigt, sagte Kohfeldt jetzt, "dann bin das nicht ich. Ich habe so viel Emotion für den Verein, davon lebe ich".

Auch Dieter Hecking, sein Kollege von der HSV-Trainerbank, erlebte die Niederlage in Heidenheim letzte Woche als "Niederschlag", das Spiel gegen Sandhausen erklärt er zur Charakterfrage: "Wenn wir es am Ende schaffen, haben wir es verdient. Wenn wir es nicht schaffen, haben wir es auch verdient." Sowohl über Heckings Job als auch über den von Kohfeldt wird diskutiert werden, in Hamburg und Bremen.

Noch vor elf Jahren waren sich die beiden Klubs ähnlich schicksalhaft, nur auf ganz anderem Niveau begegnet. Vier Mal trafen sie in der Endphase der Saison 2008/2009 aufeinander, in der Bundesliga, im Pokal, im Uefa-Cup-Halbfinale. "Das werden Schlachten", sagte der HSV-Spieler Marcell Jansen damals über die bevorstehenden 19 Tage. Hätte es Rezo zu jener Zeit schon gegeben, er hätte später eines seiner Zerstörungs-Videos aufnehmen können, so gründlich zerschellte der HSV an Werder. Die Bremer gewannen das Pokal-Halbfinale, zogen ins Uefa-Cup-Endspiel ein und schossen die Hamburger auch noch aus den Champions-League-Plätzen. Höhepunkt des historischen Best-of-Four, über das der NDR später sogar eine Dokumentation anfertigte, war der Bremer Treffer zum 3:1 im Uefa-Cup-Rückspiel: Eine Papierkugel, die von der Hamburger Fan-Choreografie auf dem Rasen liegen geblieben war, fälschte den Ball zur entscheidenden Ecke für die Bremer ab.

Torschütze damals: Frank Baumann. Baumann, 44, ist heute Manager der Bremer, Marcell Jansen, 34, sogar Präsident des HSV. Treue ist auch so ein Wert.

An der Elbe gehen sie im Verein den "Hamburger Weg", von dem keiner mehr genau weiß, was er mal sein sollte, in Bremen fasst man die familiäre Vereinsführung, durchzogen von langjährigen Akteuren aus allen Epochen, als "Werder-Weg" zusammen. Gelandet sind die Klubs in derselben Sackgasse. "Die Bundesliga hat sich in den letzten zehn Jahren neu geordnet", sagt Frank Baumann, den Corona-Quarantäne und Werder-Seuche haben grau und wuschlig werden lassen. Es sind potente Player dazugekommen wie Leipzig oder Hoffenheim, auf deren neu gestellte Fragen viele Traditionsklubs keine Antwort finden. Es ist auch ein Zeichen, dass Werder den HSV als Verein mit den meisten Bundesligaspielen abgelöst hat, nur um danach gleich selbst zu verschwinden.

Kommt es so, wird auch in dieser Spalte der Statistik bald der FC Bayern stehen, mit dem dann 1901. Spiel am 27. Spieltag der nächsten Saison. Es gibt kein Gesetz, dass etwas bleibt, wie es immer war.

Aus der Sicht manchen Hamburgers gilt Werder seit jeher nur als ambitionierter Zweitligist, der sich in die Bundesliga verirrt hat, der eigene Verein indes als einer, der in die Top 3 gehört, wo er nur umständehalber nicht ist. Aus diesem Hochmut lässt sich der tiefe Fall des HSV erklären. Die Bremer hingegen haben sich lange als Gegenmodell zu dieser Attitüde verstanden und nicht bei jedem verpassten Ziel das Personal ausgetauscht, sondern versucht, die Havarie mit Bordmitteln zu verhindern. Womöglich sind die Bordmittel aber zum Zweck geworden, jedenfalls hat das eine wie das andere schon länger nicht mehr gut funktioniert. "Wir standen ja auch schon häufiger mit dem HSV zusammen im Abstiegskampf", sagt Frank Baumann. Aber zum Abstieg verdammt auch der Lauf der Dinge niemanden - man muss schon ein paar Fehler machen.

Bernd Hoffmann, der ehe- und mehrmalige Vorstandsvorsitzende des HSV, will zur aktuellen Misere der beiden nur durch gut 100 Kilometer auf der A1 getrennten Klubs nichts sagen, sagt aber dann doch etwas: "Mein lieber Schwan." Weiterführende Analysen, wie die Vereine "in ein Sandwich zwischen Heidenheim und Düsseldorf" geraten konnten, wären abendfüllend. Erst mal spielen, sagt Hoffmann.

Das sagen sie jetzt überall: erst mal spielen. HSV - Sandhausen, Werder - Köln, Bielefeld - Heidenheim, Union Berlin - Düsseldorf, in diesen so harmlos klingenden Spielen steckt für den Fußball-Norden die größte Spannung seit Jahren. Übrig bleiben könnte in der Bundesliga als einziger Nordklub die VW-Tochter VfL Wolfsburg. Im Haifischbecken zweite Liga schwänzeln sie aber schon gierig der Fütterung entgegen: HSV, Werder, Hannover, Kiel, Sankt Pauli, Osnabrück, Braunschweig, vielleicht noch Rostock - es liest sich wie die Wiedereinführung der 1981 abgeschafften zweiten Liga Nord. "Wir haben kürzere Wege, spielen gegen große Traditionsvereine, das Stadion wäre immer voll, und auch unsere Fans haben kurze Auswärtsfahrten", sagte Hauke Wahl, Kapitän von Holstein Kiel, den Kieler Nachrichten. Letzter Meister der Staffel Nord war übrigens der SV Werder. Danach begannen an der Weser goldene Jahre.

Sowohl in Hamburg als auch in Bremen beteuern sie jetzt, dass weder der Nichtaufstieg noch der Abstieg dem Untergang gleichkämen. Sportlich sei es vielleicht eine Katastrophe, sagt Marcell Jansen, "grundsätzlich aber nicht, weil der Verein auf einem guten Weg ist". Und in Bremen haben sie schon vor längerem das drohende Minus ausgerechnet und mit den Hausbanken das Überleben verhandelt, wie hanseatische Kaufleute das eben machen.

Alles andere wird fürchterlich werden, wenn irgendwo die hohle Hoffnung stirbt und niemand beim Begräbnis ist, weil: keine Fans. Was passiert, weiß niemand. Vor Gericht, auf hoher See und im leeren Stadion liegt bekanntlich alles in Gottes Hand.

© SZ vom 27.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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