Fußball-Bundesliga:Seuche am Fuß

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Fähiger Profi: Gonzalo Castro war schon immer besser, als die Leute draußen das wahrgenommen haben. Eine Jobgarantie ist das nicht. (Foto: Michael Weber/Imago)

Gonzalo Castro hätte beinahe seine Karriere beenden müssen, weil es keine Angebote mehr gab. Jetzt ist er für ein halbes Jahr bei Arminia Bielefeld untergekommen. Ein Lehrstück über die Bundesliga in Zeiten der Pandemie.

Von Christof Kneer

Gonzalo Castro ist in dieser Saison noch ungeschlagen. Zweimal saß er für Arminia Bielefeld bereits auf der Couch, erst beim Heimspiel gegen Bochum, anschließend beim Auswärtsspiel in Leipzig. Die Arminia hat beide Partien gewonnen und seit Castros Ankunft erstaunliche Geländegewinne erzielt. Aus einer Mannschaft, die sowieso absteigt, wurde innerhalb von ein paar Tagen eine Mannschaft, die andere in den Abstieg treiben könnte. Zum Beispiel den VfB Stuttgart, wo sie Castro sehr vermissen, was sie aber gar nicht laut sagen dürfen.

Um den Bielefeldern keine Schwierigkeiten mit den Statuten zu bescheren, sollte man dazu sagen, dass Castro gegen Bochum und Leipzig noch nicht offiziell im Einsatz war. Auf der Couch wusste er zwar schon, dass er bald für die Arminia spielen würde, aber er hat erst nach den beiden Siegen seinen Vertrag unterschrieben. Zwei Wochen zuvor hat er ja noch nicht mal geahnt, dass er jemals in seinem Leben für Bielefeld sein würde.

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Am 28. Dezember wird Castro, 34, in Bielefeld ins Training einsteigen, vielleicht wird sich das für ihn schon normal anfühlen. Fußballprofis fühlen sich da zu Hause, wo der Ball ist, erst recht Fußballprofis wie Castro, dessen Sympathie für den Ball auf Gegenseitigkeit beruht. Castro fühlt sich geborgen, wenn der Ball in der Nähe ist, der Ball fühlt sich geborgen, wenn Castro in der Nähe ist. Die beiden verstehen sich, seit sie sich kennen.

"Ich war schon überrascht, dass im Sommer kein Angebot vom VfB kam", sagt Castro

Es gibt in diesen Weihnachtstagen eine kleinere und eine größere Castro-Geschichte, sie sind voneinander nicht zu trennen. Die kleinere Geschichte handelt von einem exquisiten Fußballer, der immer schon besser war, als die Leute draußen das wahrgenommen haben. Castro hat es all die Jahre gereicht, dass Trainer und Mitspieler wussten, wie gut er ist, den Zuspruch der Massen hat er nicht gebraucht. Vielen aus der Masse ist im Sommer also gar nicht aufgefallen, dass da plötzlich einer fehlte, vielleicht hat der Ball ein bisschen geweint, aber der weint ja so leise, dass es keiner hört. Beim VfB Stuttgart war Castro in der vergangenen Saison einer der Besten unter vielen Guten, sein Vertrag lief zwar im Juni aus, aber wer würde schon einen der Besten gehen lassen?

"Ich war schon überrascht, dass im Sommer kein Angebot vom VfB mehr kam", sagt Castro am Telefon, er sagt das nüchtern und professionell, aber es ist ihm hörbar nicht egal. Manchmal rutscht ihm noch ein "Wir" raus, wenn er über den VfB Stuttgart spricht. Er sagt: "Ich habe in der Mannschaft noch viele Freunde, ich vermisse die, und ich glaube, die vermissen mich auch. Aber die Spieler entscheiden natürlich nicht, ob ein anderer Spieler bleibt." Beim VfB entscheidet das kein anderer als der Sportchef Sven Mislintat, der Castro für einen ausgezeichneten Fußballer mit zwei markanten Schwächen hält. Schwäche eins: Castro ist weder 17 noch 19 Jahre jung, man kann ihn nicht mehr in der zweiten französischen Liga entdecken, er hat weder Entwicklungs- noch Wiederverkaufspotenzial. Schwäche zwei: Castro will Geld verdienen und, wie man aus Stuttgart hört, nicht mal so wenig. Geld, das Mislintat braucht, um es in seine 17- bis 19-Jährigen zu investieren.

Das ist die kleinere Castro-Geschichte, die sportliche, die Geschichte mit einer kleinen Pointe. Castro hat in Bielefeld also einen Halbjahresvertrag unterschrieben, und falls es ihm gelänge, mit der Arminia den Abstieg zu vermeiden, hätte er sich selbst geholfen (der Vertrag würde sich um ein Jahr verlängern) und dem VfB geschadet (was er gar nicht will). Er sagt: "Ich hoffe, dass wir am Ende gemeinsam mit dem VfB überm Strich stehen."

Die größere Castro-Geschichte weist dagegen weit über Castro hinaus. Es ist keine Version der Weihnachtsgeschichte mehr, in der die Bielefelder bei einer Volkszählung feststellen, dass ihnen ein Mittelfeldspieler fehlt, worauf ein armer Schlucker endlich eine Anstellung findet. Die größere Castro-Geschichte ist ein Lehrstück über die Bundesliga in Zeiten der Pandemie. Kurzfassung: Nie war es so leicht, keinen Verein zu finden.

Castro sagt: "Vor der Pandemie wäre es mit Sicherheit viel einfacher gewesen, als vertragsloser Spieler irgendwo unterzukommen. Aber die Klubs haben durch Corona keine Planungssicherheit mehr, sie wissen nicht: Können wir in der neuen Saison mit Zuschauereinnahmen rechnen? Kommt irgendwann die nächste Welle oder die 24. Virus-Variante?"

Im Moment sind manchen Klubs schon die Monatsgehälter zu viel

Corona hat die Logik des Transfermarktes verändert. In der Zeit vor dem Virus galt es für so gute Spieler wie Castro als Glücksfall, wenn sie nach Vertragsende ablösefrei waren, sie konnten sich die Vereine aussuchen und ein vorzügliches Handgeld kassieren, aber im Moment sind manchen Klubs schon die Monatsgehälter zu viel. "Ich hätte nicht gedacht, dass die Suche so schwer wird", sagt Castro. Er hat sich erst mit einem Privatcoach fit gehalten, später hat er beim Drittligisten Viktoria Köln mittrainiert, er war fit und im Besitz eines tadellosen Leumunds, aber niemand meldete sich. Castro hatte, nahezu im Wortsinn, die Seuche am Fuß.

"Natürlich habe ich mir irgendwann die Frage gestellt: Höre ich auf, höre ich nicht auf?", erzählt er, "und ich habe dann beschlossen: Bis Winter gebe ich mir noch Zeit. Die Hoffnung war immer da, aber mir war auch klar: Wenn ich in der Winter-Transferperiode nichts finde, war's das. Die Wahrscheinlichkeit, dass im nächsten Sommer noch Angebote kommen, wäre nahe null." Mitte Dezember hat dann das Telefon geklingelt, Arminia Bielefeld war dran.

Gonzalo Castro macht das jetzt noch mal. Er ist wieder drin im Geschäft. Und im April spielt er gegen den VfB Stuttgart.

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