Hertha BSC:Ghosting im Berliner Westend

Lesezeit: 3 min

Gejubelt wird vorerst nur im Mannschaftskreis - ohne Rituale mit den Fans: Hertha-Spieler beim 2:0 gegen Stuttgart. (Foto: O. Behrendt/Contrast/Imago)

Der Haussegen hängt bei Hertha BSC immer noch schief, Fans und Mannschaft sind einander gram. Doch nach dem wichtigen Sieg gegen den Abstiegskampf-Rivalen Stuttgart haben die Berliner glänzende Aussichten auf die Rettung.

Von Javier Cáceres, Berlin

Tief in der Nacht setzte Hertha-Stürmer Davie Selke noch eine Botschaft per Sozialnetzwerk ab: "Danke für euren großartigen Support! Habt noch einen schönen Restsonntag, Hertha-Fans!", schrieb Selke zu einem Selfie, das er vor der Tribüne des Olympiastadions aufgenommen hatte, die rechte Hand am Smartphone, die andere jubelnd zur Faust geballt. Die Schmeichelei kam einigermaßen überraschend. Denn Minuten vor Entstehung der Aufnahme waren die Gräben zwischen Hertha-Profis und -Fans noch sehr offen zutage getreten. Die Fußballer waren der Ostkurve demonstrativ ferngeblieben, statt mit den Fans den immens wichtigen 2:0-Sieg gegen den Abstiegskonkurrenten VfB Stuttgart zu feiern, gingen sie geschlossen in die Kabine. Damit hatte der Abend ein Thema, das den Blick vom Geschehen auf dem Rasen ablenkte: soziale Distanzierung im Berliner Westend.

Die Vorgeschichte dazu hat nichts mit Infektionen und Isolierung von Menschen zu tun. Sondern mit dem vorletzten Heimspiel der Hertha, der 1:4-Niederlage gegen den Stadtrivalen 1. FC Union.

SZ PlusCheftrainer in München
:Sein Ziel: Bayern-Trainer werden

Selbst der begabte Julian Nagelsmann hat eine Saison gebraucht, um seinen neuen Verein besser zu verstehen. Er weiß jetzt, dass es ein eigener Beruf ist, Coach in München zu sein. Daraus will er seine Schlüsse ziehen.

Von Christof Kneer und Andreas Liebmann

Seinerzeit forderten die radikalsten unter den Hertha-Fans die Mannschaft dazu auf, ihre Trikots auf den Boden zu legen, weil die Spieler das Hemd durch drei Derby-Niederlagen gegen den Nachbarn aus Köpenick entehrt hätten. Danach folgte, wie sich nun herausstellt, eine stillschweigende Verabredung der Hertha-Spieler zum Ghosting - zum wortlosen Kontaktabbruch zu ihren Fans. Schon in der Vorwoche, nach dem 1:0-Sieg in Augsburg, waren die Spieler nicht zu den mitgereisten Fans gegangen.

"Es ist in Ordnung, dass die Spieler sich wehren", sagte Trainer Felix Magath nach seinem 500. Bundesligaspiel als Coach

Erklärungen zum Vorgang aus dem Spielerkreis blieben aus. "Wir haben intern als Mannschaft was besprochen, und das ziehen wir durch. Wenn sich was ändert, werdet ihr das merken", sagte Selke nur. Trainer Felix Magath bestätigte den Boykott als Reaktion auf den Derby-Eklat: "Sie waren mit der Aktion nicht einverstanden", sagte der Trainer nach seinem 500. Spiel als Bundesliga-Coach. Magath ließ keinen Zweifel daran, dass er die Antwort seines Teams gutheißt: "Es ist in Ordnung, dass die Spieler sich wehren." Beziehungsweise: dass sie ihre Würde zurückerobern.

Aus dem Mannschaftskreis ist zu hören, die Empörung sei vor allem darin begründet, dass der Vorsänger der Hertha-Ultras die Spieler aufgefordert hatte, die Trikots auf den Boden zu legen. Bei allem Unmut über schmerzhafte Niederlagen: Man werfe das Trikot nicht in den Dreck, niemals, sondern man schwitze es durch. Es gehe um Fragen des Stolzes, als Mensch und als Fußballer, den man sich von niemandem nehmen lasse. Die Verabredung des Teams ging daher auch über den bloßen Kontaktabbruch zu den Fans hinaus. Sie führte auch dazu, dass sich die Hertha-Spieler für eben dieses Trikot zerrissen - am Sonntag zum Leidwesen der Stuttgarter.

Wunderbares Bierdeckel-Solo zum 2:0: Ishak Belfodil trifft für Hertha BSC (Foto: Sebastian Räppold/Matthias Koch/Imago)

Deren Sportdirektor Sven Mislintat monierte, dass der VfB in den ersten 30 Spielminuten nur 30 Prozent aller Zweikämpfe für sich entscheiden konnte. Und Magath äußerte zwar Unverständnis darüber, dass seine Mannschaft nach dem frühen 1:0 (4. Minute) "in Passivität" verfallen sei, "Stuttgart ins Spiel geholt" und gar zur besseren Mannschaft gemacht habe. Aber auch der Hertha-Trainer hob lobend hervor, dass sein Team "durch großen Kampf und großen Einsatz" dem Gegner "nicht viel in unserem Strafraum gestattet" habe.

Das lag vor allem an der Arbeit der Berliner Mittelfeldspieler Lucas Tousart, Santi Ascacíbar und Vladimir Darida, die das Zentrum im Verbund mit den Verteidigern der Hertha zustellten. Das Zittern der Berliner erschien auch gar nicht so groß, wie es Magaths Spielfazit suggerierte. Den Stuttgartern fehlte es an Ideen, um ihren Ballbesitz in Gefahr zu verwandeln. Und in der Nachspielzeit war das Hertha-Bibbern, so es denn existierte, beendet. Da sorgte der eingewechselte Ishak Belfodil durch ein wunderbares Bierdeckel-Solo im Fünfmeterraum für das 2:0 (93.), unter dem Jubel der meisten der 54 000 Zuschauer.

Die Hertha baute mit diesem Schlüsselsieg den Vorsprung auf den VfB - und damit auf Relegationsplatz 16 - auf vier Punkte aus; bei noch drei offenen Spieltagen. Zum Vorletzten Arminia Bielefeld sind es nun bereits sechs Zähler Puffer. Magath betonte zwar, in der Tabelle sei "nicht viel passiert", die Lage habe sich für die Hertha allenfalls ein wenig verbessert. Doch das war wohl eine Aussage taktischer Natur. An Magaths Stelle hätte er das nach einem Sieg auch so gesagt, erklärte dazu Mislintat.

"Die dürfen sauer sein", sagt Stuttgarts Sportchef Mislintat über die enttäuschten VfB-Anhänger

Dessen Stuttgarter hatten nach dem Spiel ihren eigenen Disput mit enttäuschten Fans. Die Lage rund um den VfB-Block eskalierte allerdings nicht ansatzweise wie bei der Hertha nach dem Derby. Das machte es dem schwer enttäuschten Trainer Pellegrino Matarazzo einfacher, Verständnis für die Fans zu äußern ("man darf die Wut auch spüren"). Und auch Mislintat sagte: "Die Fans waren komplett im Support, die ganze Zeit. Sie haben einen herausragenden Job gemacht. Die dürfen sauer sein."

Bei der Hertha hoffen sie offenbar auf eine möglichst baldige Versöhnung zwischen Fans und Spielern. Er setze auf eine baldige Annäherung, sagte Magath, man müsse sich "gemeinsam gegen den Abstieg stemmen". Das Zweitliga-Szenario ist immerhin um einiges unwahrscheinlicher geworden: Ein Sieg am Samstag beim nächsten Direktduell in Bielefeld würde einen direkten Abstieg bereits verhindern. Sollte Stuttgart zudem gegen Wolfsburg verlieren, wäre die Hertha gerettet. Und das wäre dann wohl auch mit den Fans zu feiern.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

PSG in Frankreich
:Die Fans verweigern die Meisterfeier

Paris Saint-Germain ist vorzeitig Meister, auch dank eines Traumtors von Messi - doch die Anhänger verlassen den Prinzenpark schon vor Ende des Spiels. Sie protestieren gegen die Vereinspolitik.

Von Stefan Galler

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: