FC Bayern:Nagelsmanns riskantes Experiment glückt

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Manuel Neuer (am Boden) musste am Samstag gegen Leipzig fünf Paraden zeigen - so viele wie noch nie in dieser Saison. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Das 3:2 des FC Bayern gegen Leipzig gerät zum offenen Schlagabtausch auf hohem Niveau. Auch die Reflexe von Manuel Neuer bewahren die Münchner vor einem Punktverlust.

Aus dem Stadion von Philipp Schneider

Dass dieses Duell der Vorjahres-Bundesligabesten FC Bayern und RB Leipzig das Zeug für eine angemessene Unterhaltung am Samstagabend haben würde, das war schon vor dem Anpfiff zu erahnen gewesen. Da nämlich streifte es bereits die große Erzählung von J.R.R Tolkiens "Herr der Ringe". Das allerdings hatte weniger mit martialischen Tönen der verantwortlichen Trainer Julian Nagelsmann und Domenico Tedesco zu tun. Vielmehr mit der Frage, ob die Nähe ihrer beiden Taktikschulen etwas damit zu tun haben könnte, das sie 2015/16 gemeinsam die Schulbank für angehende Trainer gedrückt haben. Einen sehr ausführlichen Vortrag war Nagelsmann auf der Pressekonferenz vor dem Spiel die Frage wert, weswegen Tedesco seinen Fußballlehrer mit der Note 1,0 bestand, er selbst lediglich mit einer 1,3.

Um die lange Geschichte zu verknappen: Am ersten Schultag lief Nagelsmann ganz bewusst erst kurz vor dem Gong in den Klassenraum. Weil er zu den Coolen gehören wollte, nicht zu den Strebern. Was er nicht ahnte: Die Coolen waren schon sehr früh in den Raum gestürmt. Um sich die coolsten Plätze zu organisieren - jene ganz hinten. Dem lässig spät gekommenen Nagelsmann blieb also nur der Platz, der noch frei war: ganz vorne bei den Strebern. Das Zustandekommen dieser hundsgemeinen Sitzordnung muss Nagelsmann vorgekommen sein wie ein Paradoxon der Coolness. Und sie hatte gravierende Auswirkungen auf seine Freizeitgestaltung während des Unterrichts. Denn während sich die Lümmel aus der letzten Bank während des Unterrichts "die Trilogie von Herr der Ringe 44-mal angeguckt haben, konnte ich nicht einmal irgendwas bei Google eintippen, weil mein Laptop sofort zugeklappt wurde", so hat es Nagelsmann erzählt.

Am Samstag, zwischen den Minuten 58 und 69, könnte sich der beim Lehrgang cooler platzierte Tedesco an einen speziellen Moment des Ringkriegs erinnert haben. Da nämlich fielen die Münchner Spieler über die Leipziger her wie die sprechenden Bäume über den Turm des Zauberers Saruman im zweiten Teil der Trilogie. Nur hießen die Eindringlinge nicht "Baumbart" und "Buchenbein", auch warfen sie keine Felsbrocken, sie hießen Gnabry, Lewandowski und Sané - und sie schossen mit Fußbällen aus allen Lagen.

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Jetzt erst. Das war eine Besonderheit dieses Spiels zwischen dem Tabellenführer und dem Tabellensechsten der Bundesliga. Dass sich Leipzig den Bayern geschlagen geben musste - knapp, mit 2:3 (1:2), das entsprach dem schnöden Resultat. Aber der Umstand, dass sich Tedescos Mannschaft so lang mit einer mutigen und offensiven Ausrichtung den Bayern entgegengestemmt hatte, das war bemerkenswert.

Thomas Müller sagt: "Leipzig spielt diese Saison unter ihren Möglichkeiten, das ist ja kein Geheimnis"

"Das war ein sehr interessantes Fußballspiel", sagte Nagelsmann. Eines, in dem seine Elf "viel zu viele Risikopässe gespielt" habe. Und eines, in dem Leipzig "nach der 70. Minute ein bisschen die Power" abhanden gekommen sei. Und auch der formstarke Thomas Müller, dem ein frühes Führungstor gelang, lobte den Gegner: "Leipzig spielt diese Saison unter ihren Möglichkeiten, das ist ja kein Geheimnis."

Nagelsmann setzte auf dieselbe Formation, die vor der Länderspielpause mit 4:1 bei Hertha BSC gewonnen hatte. Er nominierte wie so oft eine Dreierkette in der Defensive, gegen Hertha hatte diese Abwehr genügt. Die Frage war: Würde sie auch dem Ansturm der unter Tedesco wieder recht ballverliebten Leipziger aushalten? "Ich habe mich dazu entschieden, die offensivstärkste Elf zu wählen", gab Nagelsmann später zu. "Wir hätten auch mit vier Innenverteidigern spielen können, damit ist eine Mannschaft (Deutschland, Anm. d. Red.) auch mal Weltmeister geworden. Aber da habe ich grundsätzlich eine andere Überzeugung." Er ließ sich ein auf ein Experiment - und das ging gut.

Klassentreffen in München: Domenico Tedesco (links) und Julian Nagelsmann drückten zusammen die Schulbank bei der Ausbildung zum Fußballlehrer. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Die Gäste hatten die erste gute Chance. Nach einer Ballstafette über drei Stationen setzte Dani Olmo einen Schuss knapp über das Kreuzeck. Leipzig wollte spielen und nicht nur reagieren. Das zeigte sich in einer offensiven Staffelung der Linien. Und es zeigte sich auch am mutigen Aufbauspiel aus dem eigenen Strafraum. Zwölf Minuten waren verstrichen, da wäre Willi Orban gut beraten gewesen, einen Befreiungsschlag abzufeuern. Stattdessen wurde ihm ein Hang zum Kurzpassspiel zum Verhängnis. Tolisso stibitze einen Passversuch, Lewandowskis Schuss wehrte Gulacsi noch ab, doch nur zu Müller - das 1:0. Und schon war Tedescos Matchplan reif für den Papierkorb. Konnte man meinen.

Aber Tedesco griff nicht ein in die Statik seines kräfteraubenden Spiels; seine Spieler rannten und pressten und nahmen den Bayern die Luft zur kreativ-bedächtigen Entfaltung. Ihre Kombinationen landeten immer wieder bei Olmo als letzte Instanz - zweimal waren es nur die Reflexe von Neuer, die den Ausgleich noch verhinderten.

Zwischendurch war auch er machtlos: Nach einem Ballverlust von Tolisso zog Christopher Nkunku einen Sprint durch das Zentrum an wie ein Schnellzug - und nach einem Umweg über Konrad Laimer drückte Silva den Ball an Neuer vorbei über die Linie. Hochverdient war der Ausgleich. Tedesco klatschte an der Seitenlinie in die Hände, dirigierte, fuchtelte. In seiner schwarzen Thermobekleidung ohne Winterjacke, die so aussah, als sei er verdammt zum unentwegten Dirigieren und Fuchteln, wollte er nicht einfrieren. Und immer weiter rannte seine Mannschaft an.

Neuer bedauert den Abschied von Niklas Süle

Die Bayern brauchten eine Weile, ehe sie die Hoheit über das Geschehen zurückerlangten. Manche Chance geschah eher zufällig: Eine Flanke von Coman beispielsweise wurde länger und länger - und als sie sich plötzlich senkte, da prallte sie zur Überraschung von Torwart Gulacsi und vermutlich auch des Pfostens gegen selbigen. Eine andere Gelegenheit sah zunächst besser aus, als sie es verdiente: Als Müller nach einer Vorlage von Gnabry den Ball ins Netz nickte, da reklamierten die Leipziger ein Foulspiel von Lewandowski an Josko Gvardiol, das der Szene vorausgegangen war - die Überprüfung des TV-Materials gab ihnen Recht, der Treffer wurde annulliert. In der Arena ertönte ein Pfeifkonzert, so mächtig, dass sich daran auch die Ohren von Schiedsrichter Sven Jablonski nach all den Geisterspielen sicher erst wieder gewöhnen mussten.

Nun wären Nagelsmanns Bayern nicht die vor Selbstvertrauen strotzenden Bayern Nagelsmanns, wenn sie so einer Szene unnötig hinterhertrauern würden. Kurz vor der Pause schickte Tolisso einen traumhaften Pass auf die linke Außenbahn zu Coman - im Zentrum stieg Lewandowski in die Höhe und traf per Kopf (44.).

Auch nach der Pause blieb Tedesco seinem Matchplan treu. Und sein Urvertrauen in die offensive Ausrichtung belohnte ihn umgehend: Diesmal zog Laimer einen Pass wie mit dem Skalpell durch die Dreierkette der Bayern in den Lauf von Nkunku - der Franzose schob durch Neuers Beine ein zum 2:2 (53.).

Bevor die Bayern überhaupt ins Grübeln hätten geraten können über die Hartnäckigkeit der Leipziger, da luden diese die Münchner wie schon beim ersten Treffer mit einer unnötigen Schlampigkeit im Aufbauspiel zum Toreschießen ein. Diesmal war es ein Abstoß von Gulacsi, den die Bayern umgehend auf Gnabry weiterleiteten - dessen Schuss lenkte Gvardiol ins eigene Tor (58.).

Und so haftete aus Sicht der Bayern nur ein kleiner Makel an diesem gelungenen Spieltag. Manuel Neuer, der den 310. Bundesligasieg in seiner 458. Partie erlebte und damit einen Rekord von Oliver Kahn egalisierte (sogar mit 99 Spielen weniger), er bedauerte in ungewöhnlich deutlichen Worten, dass der FC Bayern sich mit Innenverteidiger Niklas Süle nicht auf einen Vertrag über den Sommer hinaus einigen konnte. "Uns alle nervt, dass Niklas geht", sagte Neuer. "Er wird uns fehlen."

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