FC Bayern:Frankenflicks Monster ängstigt Nagelsmann

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Kommt ins Nachdenken: Bayern-Trainer Julian Nagelsmann. (Foto: Alexandra Beier/AP)

Der Münchner Trainer ist in eine Phase der Nachdenklichkeit eingetreten: Erstmals seit seiner traumwandlerischen Stabübernahme beim FC Bayern scheint Julian Nagelsmann gegen sein Naturell zu coachen.

Von Philipp Schneider

Es war eine an sich harmlose Frage, die der Trainer des FC Bayern nach dieser Partie mit vielen Toren und wenigen ärgerlichen Gegentoren gestellt bekam. Es sei doch so, erkundigte sich ein neugieriger Journalist: Robert Lewandowski treffe ja gerade offensichtlich in jedem Spiel, und auch der Rest der Mannschaft spiele wie der Teufel nach vorne. Ob es also vielleicht möglich sei, dass der FC Bayern in dieser Saison mehr als 100 Tore erzielen könne?

Och, sagte der Trainer des FC Bayern. Dieser Torerekord sei ihm grundsätzlich schnurzpiepe. Ganz anders also übrigens als ein mit all den schönen Treffern verwandtes Prinzip: Seine Mannschaft müsse an der "Balance" arbeiten, manchmal suche seine Elf vor lauter Begeisterung zu schnell den Torerfolg, sie spiele immer nur nach vorne, "aber wir müssen auch mal das Tempo rausnehmen und den Gegner auch mal mit Ballbesitz dominieren".

Auch bei Robert Lewandowski ist nicht jeder Schuss ein Treffer. Aber die Entscheidung über seine Zukunft muss sitzen. (Foto: Alexander Hassenstein/Getty Images)

Bald zwei Jahre ist es her, dass der Trainer Hansi Flick diese Gedanken zum Offensivparadoxon des FC Bayern vorgetragen hatte. Nach einem 5:2 gegen Eintracht Frankfurt, bei dem ein gewisser Martin Hinteregger zweimal defensive Naivitäten der ansonsten lustvoll angreifenden Münchner ausgenutzt hatte, um sie nach zwei Standards mit Fuß und Kopf zu überlisten.

"Du wirst diese Spieler nicht dazu bringen, dass sie Ballschieber werden", sagt Nagelsmann

Am Sonntag, nach diesem merkwürdigen, in zwei überaus gegensätzliche Hälften geteilten 4:1 der Bayern gegen den Tabellenletzten Greuther Fürth, musste man wieder an Hinteregger denken. Weil Flicks Nachfolger Julian Nagelsmann es war, der an Flick erinnerte ("das war schon unter Hansi so ...") und bei der Autopsie der soeben beendeten Partie fast denselben Wortlaut bemühte wie sein Vorgänger. Seine Mannschaft "sei extrem darauf gepolt, Angriffe schnell nach vorne zu bringen und zu Ende zu spielen", sagte Nagelsmann. Es gehe immer um eine gewisse "Balance, wann ich in Ballbesitzphasen gehe ... Es gibt keinen Spieler, der extrem draufsteigt und das Spiel beruhigt."

Als Trainer gehe es darum, "diese Art und Weise gewinnbringend zu nutzen, indem du über 70 Tore in der Bundesliga schießt - immer auf Kosten, dass was passieren kann". Dann schloss Nagelsmann seine Analyse mit einer Conclusio, die sich vielschichtig deuten ließ: "Du wirst diese Spieler nicht dazu bringen, dass sie Ballschieber werden."

Warum aber wirkte es dann so, als hätten die Bayern gegen den Tabellenletzten Fürth 45 Minuten lang den Ball mehr geschoben als in die Spitze gejagt?

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Wenn der Eindruck nicht täuscht, dann ist der Trainer Nagelsmann in eine Phase der Nachdenklichkeit eingetreten. Nachdem ihm im Sommer die Stabübergabe von Flick fast schon mit traumwandlerischer Sicherheit gelungen war, steht er nun am Spielfeldrand und runzelt die Stirn. Bevor in Liga und Champions League die entscheidende Phase beginnt, geht er nun erstmals über die Bücher.

Die Ausbeute der ersten Halbzeit: ein harmloser Schuss von Thomas Müller

Nach der harten Kritik an seiner Defensivabteilung, die zuletzt beim 2:4 gegen den VfL Bochum in der Liga und auch beim 1:1 gegen Salzburg in der Champions League zu jeder Zeit so gespielt hatte, als könnte gleich wieder etwas passieren, hatte Nagelsmann gegen Fürth seiner Elf zu Beginn eine Viererkette verordnet. Auch dies begründete er später explizit mit dem Verweis darauf, dass die Spieler diese Formation unter Flick jahrelang einstudiert hatten. Das gewohnte Korsett sollte wohl die Sicherheit in ihr Spiel zurückbringen. So streng zusammengeschnürt lief das Spiel allerdings nicht flüssig nach vorne - und die frechen Fürther gingen kurz vor der Halbzeit sogar in Führung, als Branimir Hrgota bei einem Freistoß auf noch frechere Weise das Knie von Marcel Sabitzer als Bande missbrauchte.

Ein einziger Torschuss von Thomas Müller in die Arme von Fürths Torwart Andreas Linde in der Nachspielzeit war die gesamte Ausbeute der Offensivbemühungen in der ersten Hälfte. "Wir hatten kein Tempo im Spiel", bemängelte Torwart Sven Ulreich. "Wir haben viel zu langsam gespielt und die falsche Entscheidung getroffen", kritisierte Robert Lewandowski, der ja berufsbedingt darauf angewiesen ist, dass hinter ihm keine Bälle von links nach rechts geschoben werden. "In der zweiten Halbzeit war es offensiv viel besser." Und die Frage muss lauten: Warum erst jetzt?

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"Mit viel Power" kehrten die Bayern jedenfalls aus der Kabine zurück, was Nagelsmann später wohl auch deshalb ausdrücklich lobte, weil er die Power und die Rückkehr zu einer Dreierkette in der Umkleide angeordnet hatte. Und abgesehen davon, dass es seiner Mannschaft zupasskam, dass der Ausgleich zeitnah nach Wiederanpfiff fiel, so drehten die Münchner diese Partie mit jenem Karachofußball, den sie vorher offensichtlich nicht hatten spielen sollen. Als es vorbei war, nachdem zweimal Lewandowski, einmal Choupo-Moting ins gegnerische, dazu der Fürther Griesbeck ins eigene Tor getroffen hatten - und dessen Kollegen Christiansen und Meyerhöfer jeweils den rechten Pfosten surren ließen, da erinnerte der wilde Vortrag an jenen Fußball, der schon Flick ab und zu mal gegruselt hatte. Tatsächlich hätten Christiansen und Meyerhöfer fast ein 2:2 geschossen - und wie wäre diese Partie dann geendet?

Erst versuchte Nagelsmann, das Monster zu bändigen - dann ließ er es wieder toben

Damals wie heute macht sich ein Bayern-Trainer Sorgen, dass es mit dem ewigen Angriffsfußball nicht auf Dauer gut gehen kann. Die offensive Grundordnung kostet viel Kraft, weil sämtliche Mannschaftsteile verantwortlich dafür sind, die Gegentore zu verhindern. 2020 wurden an der Säbener Straße nach dem Abschied des Trainers Niko Kovac die Spieler erstmals von der Leine gelassen und Frankenflicks Monster geschaffen. Es ist jetzt noch immer da draußen und hungrig, das Triple von 2020 hat es nicht gesättigt.

Und Nagelsmann, der im Sommer mit dem Vorhaben angetreten ist, dessen Klauen noch zu schärfen, kann man neuerdings dabei beobachten, wie ihn Frankenflicks Monster ängstigt. Gegen Fürth hat er versucht, es entgegen seines Naturells für 45 Minuten an die Kette zu legen, indem er mehr Spieler hinter den Ball brachte, als er es für gesund erachtet. Aber dort zappelte und zerrte es, dass sich das Eisen in die eigene Haut fraß. Also ließ er es wieder toben.

"Never complain über einen Sieg", sagte Nagelsmann interessanterweise nach dieser Partie, deren Hälften so gut zusammenpassten wie die Sprachen in diesem Satz. Dass er die drei Punkte gegen den Tabellenletzten als "tabellarisch, punktemäßig und auch psychologisch wichtig" bezeichnete, lenkt den Blick auf eine tiefe Verunsicherung, die er in der Mannschaft ausgemacht haben dürfte. Darauf weist auch ein Bonmot von Torwart Ulreich, der nun seit drei Partien den frisch operierten Manuel Neuer ersetzt und deshalb mangels Spiel-Historie zu einer amüsanten Einschätzung kommen konnte: "Ich bin einfach froh, dass wir jetzt mal gewonnen haben."

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