In seiner Kindheit hat Benedikt Doll Zeit im Hotel "Sonnenhof" bei Hinterzarten verbracht. Anlass war, dass seine Eltern Charly und Friederike Doll dieses Hotel betrieben. Der Vater hatte den Hut in der Küche auf, oder besser die Haube, und Sohn Benedikt schaute ihm dabei zu und half a weng mit. Seiner Kindheit entwachsen, entschied Doll sich gegen den Beruf des Gastronomen. Statt Gäste zu empfangen, ist der 33-Jährige seit bald zwei Jahrzehnten selbst Dauergast in internationalen Hotels und Pensionen, sofern sie sich in der Nähe von Langlaufloipen und Schießständen befinden. Eines hat er sich bewahrt: Sein früh erlerntes Gespür für Feinheiten - sei es im Geschmack - oder am Gewehr.
Vielleicht hilft der Exkurs in die Frühphase des Biathlonkünstlers Benedikt Doll, um zu erahnen, was ihn in der Spätphase seiner Sportlerkarriere umtreibt. Das hat am Mittwochabend so viele interessiert wie längere Zeit nicht. Der Schwarzwälder Doll hatte im Ochozawald von Nove Mesto, Tschechien, gerade einen Biathlonwettkampf vollendet. Er war als Dritter ins Ziel gekommen - und weil dieses Rennen Teil der Veranstaltungsreihe Weltmeisterschaft ist, würdigte eine Vielzahl von Reportern dies auf ihre Weise, also mit einer Menge an Fragen.
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Doll hat oft in den Mixed Zonen gestanden und in die Mikros gesprochen, sehr viele wollten ihn etwa 2017 reden hören, als er WM-Gold im Sprint von Hochfilzen gewann, oder ein Jahr später nach seinem Bronzelauf in der Olympiaverfolgung von Pyeongchang. Sechs Jahre nach diesem letzten großen Erfolg hatte Doll in dieser Saison noch einmal Hinweise auf Medaillenambitionen hinterlassen, doch nach seinen besten Disziplinen - Sprint und Verfolgung - hatten ihn manche Beobachter schon abgeschrieben. "Wir hatten uns im Sprint am meisten Hoffnung gemacht, um dann so enttäuscht zu werden", sagte Doll am Mittwochabend. "Unsere Serviceleute waren auch maximal unzufrieden, die haben jetzt am Montag und Dienstag noch mal so richtig geackert." Als kaum einer mehr an ihn glaubte, haute Doll noch einmal einen raus.
"Innerlich heul' ich", sagt Benedikt Doll, aber weil er schon so abgestumpft sei, "kommen die Tränen nicht raus".
Am früheren Mittwochabend war unter den Menschen in den gelben Jacken vom Deutschen Skiverband kollektives Zittern eingetreten. Zwei norwegische Biathleten hatten sich im Flutlicht aufgemacht, dem Deutschen noch die WM-Medaille im 20-Kilometer-Einzel wegzuschnappen. Doll war bereits im Ziel, als Dritter hinter dem norwegischen Brüderpaar Johannes Thingnes und Tarjei Bö. Neunzehn von zwanzig Scheiben hatte Doll getroffen, es sah vielversprechend aus, allerdings waren noch zwei weitere Norweger auf der Strecke: Sturla Holm Laegreid und Johannes Dale-Skjevdal. Beide hatten nun die letzten fünf Scheiben vor sich - und machten sich auf, sie alle zu treffen; das hätte wohl beiden gereicht, um Doll zu verdrängen. Doch dann schoss Laegreid zweimal daneben - und Dale-Skjevdal gleich viermal. Nach Janina Hettich-Walz' Einzelsilber am Vortag war dem deutschen Team auch die zweite Medaille nicht mehr zu nehmen.
Mitten im Trubel der gelben Skijacken stand Benedikt Doll, die Teamkollegen fielen ihm um den Hals, DSV-Chef Felix Bitterling ballte die Hand zur Faust. "Mich freut es für den Benni, weil der jetzt keine leichte Zeit hatte", sagte Bitterling. Doll habe "mit dem Schießen gestruggelt, heut' hat er es allen gezeigt". Auch Doll war in diesem Moment die Erleichterung anzusehen. Er nahm Umarmungen und Glückwünsche entgegen, ehe er den Weg zu den Mikros antrat.
Für TV-Kameras eignen sich in solchen Momenten große Emotionen, etwa als Dolls Teamkollegin Vanessa Voigt nach dem Verfolgungsrennen vom Sonntag vor Enttäuschung weinte, ehe sie zwei Tage später Freudentränen in den Augen hatte. Und Doll? "Innerlich heul' ich", sagte der 33-Jährige, "aber da ich durch den Leistungssport emotional abgestumpft bin nach so vielen Jahren, kommen die Tränen nicht raus." Große Emotionen, lauter Jubel? Doll wirkte eher wie einer, der eine gewisse innere Genugtuung verspürt. "Ich bin einfach unfassbar glücklich, dass ich mir das selbst noch mal beweisen konnte."
Doll hat seine Weltklasse oft bewiesen. Sechs Weltcupsiege und 39 Podestplätze sowie drei Einzel- und fünf Staffelmedaillen bei WM und Olympia sprechen für ihn. Nur eben bei dieser von Wärme und Regen unterwanderten WM hatte er sich zuletzt einiges anhören dürfen. Deutschland ist nicht zuletzt ein Biathlonland, und Dolls Rolle jene des vordersten Podestkandidaten. Sein Teamkollege Roman Rees etwa sagte am Mittwoch nach dem Rennen über Dolls Medaillenpotenzial: "Der Benni war der, der immer wieder dazu in der Lage ist."
Ist. Und war. Auch darum geht es natürlich bei Doll, der im kommenden Monat das hohe Biathletenalter von 34 erreichen wird, jene Marke, bei der die bis vor einem Jahr erfolgreichste aktive DSV-Biathletin Denise Herrmann-Wick ihre Profikarriere beendete. Vor Saisonbeginn hatte Doll angekündigt, erst nach der WM (die am Sonntag endet) mitzuteilen, ob er über die Saison hinaus weitermacht. Hört er eventuell schon nach Nove Mesto auf? Natürlich fragt man so etwas nicht an so einem Abend im Erfolgsrausch, wenngleich Doll eher nüchtern wirkte. Oder präziser ausgedrückt: Er wirkte in diesen Momenten nicht nur wie einer, der gerade Genugtuung und Erleichterung verspürt.
Der Mann, der einst im Hotel das Kochen lernte, hinterließ am Mittwochabend eher den Eindruck von einem, der alles schon viel zu oft erzählt hat. Als hätte er von so manchen Dingen genug. Leistungssport ist ja mehr, als im TV zu sehen ist: fortdauernde kräftezehrenden Reisen, Dopingkontrollen früh am Morgen, wöchentliches Koffer einpacken und wieder auspacken. Und die strenge Ernährung. Das wenigste bekommt man mit: Etwa, dass Doll von allen DSV-Biathleten den feinsten Sinn für Geschmackserkennung hat. Dank seines Vaters, der selbst nach der Sportlerkarriere zum Koch wurde. Und sein Sohn? Der sagte am Mittwochabend noch: "Schau'n mer mal, was die Köche zum Essen gezaubert haben, darauf freue ich mich jetzt am meisten."