Champions League gegen ManCity:Kübel voller Verachtung für Atlético

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In puncto Lautstärke klar im Vorteil: Trainer-Vulkan Diego Simeone (links) und sein Viertelfinal-Gegner Pep Guardiola. (Foto: Javier Garcia/Imago)

Trainer Diego Simeone verfügt über den talentiertesten Kader seiner zehnjährigen Amtszeit bei Atlético Madrid. Die große Frage lautet: Warum lässt er ihn nicht einfach Fußball spielen?

Von Javier Cáceres, Madrid

Über dem Eingangstor 40 des Estadio Metropolitano von Atlético Madrid prangt ein überlebensgroßes Porträt von Diego Pablo Simeone, und darunter die Legende, die auf ihn, den Trainer, genauso passt wie auf seinen Klub: "Otra forma de entender la vida", zu Deutsch: "Eine andere Art, das Leben zu verstehen".

Wer wissen möchte, aus welchen Quellen sich der Blick Simeones auf die Welt speist, oder auch nur: aus welchem Holz Simeone geschnitzt ist, der wird in der TV-Doku "Partido a partido" fündig, sie wird gerade im Streamingdienst Amazon vertrieben. Unter anderem, weil sich Simeones Mutter, Nilda González, dort der Tage erinnert, da der Filius bei Vélez Sarsfield in der ersten argentinischen Liga seine ersten Karriereschritte tätigte und unflätige Äußerungen über sich ergehen lassen musste.

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"Sie riefen: Du Hurensohn! Du Hungerleider!", sagte Doña Nilda. Da sei sie aufgestanden und habe sich eingemischt: "Hurensohn? Meinetwegen. Aber Hungerleider? Ich bin seine Mutter!" Sie habe erstaunte Blicke geerntet, erzählte sie, und dann in die entsetzten Augen ihres Mannes geschaut. "Er hätte mich fast umgebracht", sagte sie - und lachte.

Die Doku-Serie endet mit dem bislang letzten Erfolg Simeones, dem zweiten spanischen Meistertitel, den der frühere argentinische Nationalspieler als Trainer von Atlético Madrid gewonnen hat. Es war, nationale und europäische Supercups eingerechnet, der achte Titel Simeones seit seinem Amtsantritt Ende 2011. Was danach geschah, wäre eine eigene Doku wert: eine mysteriöse Aneinanderreihung von mediokre Leistungen, brillanten Spielen und Enttäuschungen.

In der spanischen Liga liegt Atlético nach 31 von 38 Spieltagen gleich fünfzehn Punkte hinter Spitzenreiter Real Madrid; am Wochenende verlor Atlético beim abstiegsgefährdeten Real Mallorca. Im Pokal schied Atlético im Achtelfinale aus, nach einer 0:2-Niederlage bei Real Sociedad San Sebastián. Und ob Atlético ausgerechnet in der Champions League zu den Titelehren kommt, ist mindestens fraglich. Am Mittwoch muss Atlético im Achtelfinale gegen Manchester City einen 0:1-Rückstand aufholen. Atlético hat seit sieben Champions-League-Heimspielen nicht mehr gewonnen und historisch betrachtet ein großes Talent, in der Königsklasse tragisch zu scheitern.

Atlético erinnert "an den Plebs, Rauheit, Straßenköter, Punkmusik, Graffiti in Zügen", schreibt die Zeitung La Vanguardia

Nach dem Hinspiel waren die alten Debatten um Atléticos Spielverständnis krude wie lange nicht mehr aufgebrochen. Der Grund: Atléticos Fußballverweigerung. In Manchester hatte Atlético aus einem 5-5-0-System heraus operiert, in 90 Minuten nicht einen einzigen Torschuss abgegeben. In Italien hatte der legendäre Ex-Trainer Arrigo Sacchi aufgeschrien: "Was für ein Fußball ist das? Er bietet dir nicht mal Freude, wenn du gewinnst." Dean Saunders, eine Legende des FC Liverpool, sprach von "Parasiten-Fußball". Und am Dienstag schüttete die durchaus vornehme, in Barcelona beheimatete Zeitung La Vanguardia einen Kübel voller Verachtung über Atlético aus.

Woran man denke, wenn man über Atlético sinniere? Gewiss nicht an die Sixtinische Kapelle oder Beethovens Neunte Sinfonie, schrieb das Blatt. Sondern? "An den Plebs, Rauheit, Straßenköter, Punkmusik, Graffiti in Zügen" oder auch "an das Kartell von Sinaola", das heißt: "an tätowierte Gauner, die bereit sind, für ihre Causa zu sterben oder zu töten". Im aktuellen Fußball komme "nichts einem terroristischen Attentat näher" als der modus operandi Atléticos.

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Am Mittwoch saß Simeone im riesigen Auditorium des Stadions, und auch wenn er nicht ausdrücklich auf den Text angesprochen wurde, meinte er, dass er gerne bereit sei, Kritiken zu ertragen, "wenn sie nicht abwertend" daherkämen. Seinen Grundsätzen bleibt er ungeachtet dessen treu. So auch nach dem Spiel in Manchester, als er davon sprach, regelrecht gerührt gewesen zu sein, dass seine Mannschaft "ohne jedes Schamgefühl verteidigt" habe.

Andererseits: Ein paar Rätsel gibt Simeone eben doch auf. Als er über Manchester City sprach, klang er so huldvoll, dass er als Fan der Vorführungen der Guardiola-Teams durchgegangen wäre, die einen völlig anderen, offensiveren Ansatz verfolgen. City habe "eine fest installierte Philosophie, die akzeptiert und der applaudiert wird, mit großartigen Spielern und einem großartigen Trainer". Natürlich habe auch er sich Citys Duell mit dem FC Liverpool vom Wochenende angesehen, sagte Simeone, "sie spielen sehr schön und sehr gut." Dann aber wurde klar, dass er aus seiner Haut nicht herauskommt. Denn das Duell zwischen City und Liverpool hielt er nicht nur wegen der offensiven Spielaktionen für eine "fantastische Partie", sondern auch, weil sich beide Teams "wegen des offensiven Talents der jeweils anderen Mannschaft zurückziehen mussten" und das bei "deutlich markierten Verteidigungslinien" hervorragend taten.

Das passt zu einer weiteren Episode aus der Simeone-Doku. Denn auch Guardiola trat dort auf und erinnerte daran, dass ihn Simeone zur Fortbildung aufgesucht hatte, als er gerade Trainer beim FC Barcelona war; Simeone unternahm da gerade in seiner Heimat erste Karriereschritte als Coach.

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Sie hätten über den fußballerischen Ansatz des FC Barcelona gesprochen, berichtete Guardiola und fügte hinzu, dass Simeone ihn irgendwann unterbrochen habe: "Ich mag das nicht. Ich spüre das nicht." Da habe er gewusst, dass aus Simeone einmal ein großartiger Trainer werden würde, sagte Guardiola - und zog den Hut vor Simeone.

Und dennoch: Die Kritik an Simeones Stil, der dem Pep-Fußball so brutal entgegengesetzt ist, schwappt zurzeit auch deshalb wieder hoch, weil der Argentinier über den vielleicht talentiertesten Kader seiner über zehnjährigen Amtszeit verfügt. Vor Saisonbeginn kehrte Antoine Griezmann aus Barcelona zurück, der brasilianische Nationalspieler Matheus Cunha stieß aus Berlin dazu, der argentinische Mittelfeldspieler Rodrigo de Paul kam aus Udine. Aber Atlético wurschtelte sich zu Saisonbeginn so durch - und reihte Ende gegen Ende des Jahres so viele Niederlagen aneinander, dass es zwischenzeitlich auf Platz fünf abrutschte. Die defensive Stabilität war nicht richtig weg, aber irgendwie doch: Die Gegner schossen seltener aufs Tor denn je. Aber sie trafen.

"Wir werden uns gegen City nicht sehr weit von unserem Credo entfernen", sagt Simeone

Die Folge: Intern knirschte es. Der Klub erlaubte einem der langjährigsten Mitarbeiter Simeones, dem Konditionstrainer Óscar "El Profe" Ortega, in den Länderspielpausen der Nationalmannschaft Uruguays Beine zu machen. Simeone rümpfte die Nase. Im Klub wiederum war man verstört, weil Simeone den portugiesischen Wunderstürmer João Félix auf der Bank schmoren ließ. Und der hatte eine Ablöse von 127 Millionen Euro gekostet. Nach einer Krisensitzung mit Klubchef Miguel Ángel Gil Marín und Sportdirektor Andrea Berta gab es Mitte Februar ein Kommuniqué, in dem der Klub unterstrich, dass er an Simeone festhalten werde. Es folgten sechs Siege - bis zum 0:1 auf Mallorca vom Samstag.

Nun also folgt City. "Wir werden uns nicht sehr weit von unserem Credo entfernen", sagte Simeone. Aber ein bisschen mehr Wagemut als in der Vorwoche muss es dann wohl sein, wenn man den Ball im gegnerischen Tor unterbringen und siegen möchte. Und das versicherte Simeone am Dienstag auch.

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