Andrea Pirlo:Der Fixstern, um den die Mannschaft kreiste

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  • Andre Pirlo, Weltmeister von 2006, beendet mit 38 in den USA seine Karriere.
  • Er war ein Hochbegabter des Spiels, imstande, das Gefühl zu vermitteln, Fußball sei eine Kunst und er selbst darin der große Abstrakte.
  • Im vulgären, lauten Zirkus des Fußballs zelebrierte er das Understatement, die Stille.

Von Birgit Schönau, Rom

Zum Abschied reichten ein paar Minuten und ein kurzes Winken, in einem halbleeren Stadion nach einem unnützen Sieg. Der New York City FC hatte soeben gegen Columbus Crew SC 2:0 gewonnen, was das Ausscheiden aus den Playoffs der Major League Soccer auch nicht mehr abwenden konnte. Eine melancholische Kulisse für das Arrivederci eines Spielers, den sie auf der ganzen Welt nur Maestro nennen. Und tatsächlich ging Andrea Pirlo still, aber natürlich unter donnerndem Applaus. "Nicht nur mein Abenteuer in New York neigt sich dem Ende entgegen, sondern auch meine Reise als Fußballspieler", hatte Pirlo auf seiner Instagram-Seite geschrieben, neben einem Foto, auf dem er lächelnd in unbekannte Ferne schaut. Seit Monaten hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet.

Für New York hatte Pirlo in zwei Jahren nur 16 Mal gespielt. Er war fragil geworden, nicht nur die Knie taten ihm weh, er konnte nicht mehr trainieren, wie er wollte. Mit 38 aufzuhören, war das kalkulierte Ende einer Karriere, über die er stets die Kontrolle hatte. Nach zwei Jahrzehnten Fußball in Italien zum Schluss noch einmal eine neue Welt entdecken, ordentlich Englisch sprechen lernen und nebenbei ein wenig Schaulaufen für ein Publikum, das mehr von Ikonen-Verehrung versteht als von Fußball.

Der wahre Abschied, der richtig weh tat, war ja schon am 6. Juni 2015 in Berlin geschehen, beim 1:3 seiner Juventus im Champions-League-Finale gegen Barça. Damals vergoss der sonst so kühle Andrea Pirlo heiße Tränen an einem Ort, an dem er 2006 seinen größten Triumph erlebt hatte, als die Squadra Azzurra im Olympiastadion Weltmeister geworden war.

Freistöße und Ecken waren seine Spezialität

Pirlo hat alles gewonnen, die Weltmeisterschaft, zwei Mal die Champions League, sechs Meisterschaften sowieso. Beim AC Milan, wo er zehn Jahre spielte, bei Juventus, wo er vier Jahre lang strahlte, oder in 13 Jahren Nationalteam.

Er war ja mehr: der Fixstern, die Sonne, um die die Mannschaft kreiste, manchmal auch ein Paganini in einem Orchester von Presslufthammern. Sehr wenige können das, die Partitur einer Partie lesen, die Einsätze geben, und im entscheidenden Moment selbst noch ein Solo hinlegen. Von seiner Kunst wird noch nach Generationen gesprochen werden, ungeachtet der Resultate, denn nichts war Pirlo weniger als ein Symbol italienischen Effizienzfußballs.

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Niederlagen und Skandale pflegten an ihm abzuperlen, ganz so, als überstrahle sein Talent mühelos alle Niedrigkeiten. Sie nannten ihn "Architekt" oder "stiller Anführer", für viele war er einfach nur genial. "Wer mit Andrea gespielt hat, hat die Bedeutung des Wortes einzigartig verstanden", schrieb ihm zum Abschied sein Weggefährte Gigi Buffon.

Einzigartig war der Fußballer Pirlo tatsächlich. Eine Ausnahme-Erscheinung, ein Hochbegabter des Spiels, imstande, das Gefühl zu vermitteln, Fußball sei eine Kunst und er selbst darin der große Abstrakte. Moden und Mätzchen überließ er anderen, er hatte Stil. Im vulgären, lauten Zirkus des Fußballs zelebrierte er das Understatement, die Stille; im allgemeinen Gerenne und Getrete nahm er Tempo aus dem Spiel, bis es in seinem gewünschten Takt tickte.

Denn Pirlo war nie besonders schnell, er konnte nie richtig dribbeln, akrobatische Einlagen waren erst recht nicht sein Ding, und höchst selten gelang ihm mal ein Tor aus dem Spiel heraus. Der ruhende Ball, Freistöße und Ecken waren seine Spezialität, bloß nichts Unberechenbares, und bitte keine Hektik und kein Gewusel. Wenn es aber so weit war, wenn der Ball ruhig lag und auf Pirlos Schuss wartete, hätte man in den lautesten Stadien der Welt eine Stecknadel fallen hören können.

Seine Freistoßtore waren Legion. Traf er, so blieb sein Gesicht genauso ausdruckslos wie zuvor beim Schuss. Ein stets etwas bleiches Gesicht, in das der Weltekel gemalt scheint. Ein wild wuchernder Bart, der Gesamteindruck zwischen Räuber Hotzenplotz und dem Christus von Mantegna. Die Miene konzentriert, ernsthaft, fast düster. Und wenn dann doch mal ein knappes Lächeln darüber irrlichterte, so wirkte das fast schon verstörend. Einen Wimpernschlag lang scheint er dann die Kontrolle zu verlieren, länger nicht. Es ist schon verrückt: Ausgerechnet in der riesigen Emotions- und Spektakelmaschine Fußball wird ein Italiener als Guru verehrt, der auf dem Platz kaum Gefühle zeigte. Sondern ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung.

Ein Mann der Präzisionsarbeit, dieser Sohn eines Millionen schweren Stahlunternehmers aus der Provinz Brescia. "Schon als Kind wusste ich, dass ich besser Fußball spielen konnte als die anderen", sagte er von sich. Ununterbrochen schien er vor sich hin zu rechnen, die Räume auszutarieren, Winkel zu messen. Dann ein zentimetergenauer Pass. Oder ein Freistoß mit Magnus-Effekt, wenn der Ball im hohen Bogen zum Tor gedreht wurde. Darin war Pirlo unerreicht, er pflegte unerhörte, ungeheure, unhaltbare Freistöße zu drechseln, manchmal von lyrischer Langsamkeit, manchmal über hundert Stundenkilometer schnell. "Ich berechne halt die Position der Mauer, den Winkel - und dann geht's los." Tore mit dem Geodreieck.

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Immer umwehte Pirlo eine gewisse Melancholie

Doch alle Berechnungen, alles Streben können müßig sein, zunichtegemacht in einem Wimpernschlag von einem Abwehrspieler, der nicht richtig steht, einem Schiedsrichter, der nicht richtig pfeift, oder einem Gegenspieler, der beißt. Und so entpuppt sich Pirlos unerreichte Coolness tatsächlich als spezifisch italienisch; sie entspringt der Suche nach persönlicher Perfektion im Bewusstsein ihrer Vergeblichkeit. Pirlo war sozusagen die perfekte Inkarnation jenes genio italico, der die Widrigkeiten des Lebens durch geistreiche Anpassungsfähigkeit zu überwinden oder zumindest zu umkurven sucht.

Immer umwehte ihn eine gewisse Melancholie, die Brüchigkeit des Erfolgs. Genau das aber brachte ihm überall Verehrung ein. Denn Sieger können banal sein, Pirlo aber verhieß eine andere Dimension. Die Leute wollten Pirlo nicht unbedingt gewinnen oder verlieren sehen, sie wollten ihn einfach spielen sehen. Dabei sein, wenn er über den Platz schlich und schlenzte, wenn er mit dem Fußrücken seine "Aufzug"-Freistöße schraubte, die steil nach oben zogen, um dann gnadenlos nach unten zu fallen. Zuschauen, wie dieser Mann einen präzisen Ball nach dem anderen setzte, die Haltung dabei so schlaff, als wäre er am liebsten zu Hause geblieben.

Was kommt jetzt? In seiner norditalienischen Heimat besitzt Andrea Pirlo ein Weingut, der Rote überzeugt die Kenner. Juventus würde ihn angeblich umgehend als "Botschafter" verpflichten. Beides könnte Pirlo indes zu wenig sein. Was ihn wirklich umtreibt, ist die Perfektion des Spiels. Vielleicht kehrt er bald als Trainer zurück und bringt anderen den Magnus-Effekt bei. Andrea Pirlo als Mannschafts-Architekt, das wäre die logische Fortsetzung. Bis dahin wird man ihn vermissen.

© SZ vom 08.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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