Mit dem Begriff Sensation sollte man vorsichtig umgehen, meist tut es auch die schlichte Überraschung. Beim WM-Achtelfinale an diesem Sonntag zwischen Russland und Spanien im Moskauer Luschniki-Stadion allerdings wäre diese Bezeichnung wohl eine mittelschwere Untertreibung, wenn der Gastgeber tatsächlich die Zulassung zum Viertelfinale erwerben würde. Und die über Jahre hinweg im Weltfußball prägenden Stilisten aus Spanien aus dem Turnier verabschieden sollte. Denn die russische Mannschaft war als Inbegriff der Erfolglosigkeit in die Heim-WM gestartet, laut Weltrangliste gar als schlechteste aller 32 (Platz 70).
Auch wenn sich dies durch die beiden Siege gegen Saudi-Arabien (5:0) und Ägypten (3:1) nicht bestätigt hat, bleibt Russland zumindest gefühlt der größte Außenseiter aller 16 Teams, die die erste K.o.-Runde erreicht haben. Als letztmals von St. Petersburg bis Wladiwostok in einem WM-Achtelfinale mitgefiebert werden durfte, trat man noch als Sowjetunion an. Das war beim Turnier in Mexiko 1986, also zu jener lange zurückliegenden Zeit, als Diego Maradona wegen seiner Kunstfertigkeit am Ball und mit seiner Hand Gottes Berühmtheit erlangte. Und jetzt also: Heim-WM, Achtelfinale gegen Spanien.
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Diego Maradona, nach eigenen Angaben seit Jahren von der Kokainsucht befreit, wirkte zuletzt wie auf Drogen. Argentinien belastet er wie ein erdrückender, allgegenwärtiger Schatten.
Artjom Dsjuba hat sich für das historische Ereignis schon einmal einen Begriff zurechtgelegt, der nicht nur über die Überraschung, sondern sogar über die Sensation hinausgeht. "Wir wollen das kleine Wunder schaffen und das ganze Land stolz machen", sagte der Stürmer und wählte ein recht passendes Bild für die Kräfteverhältnisse. Das Spiel gegen Spanien sei "wie der Boxkampf eines jungen und frechen Sportlers gegen einen erfahrenen Meister".
"Herr Löw hat mich geprägt", sagt Tschertschessow
Dass die Russen dennoch und trotz der 0:3-Niederlage gegen Uruguay im letzten Gruppenspiel mit einiger Zuversicht ins Spiel gehen, hat auch mit den bisher nicht wirklich furchteinflößend auftretenden Spaniern zu tun, vor allem aber mit Trainer Stanislaw Tschertschessow. Dessen bisher durchaus erstaunliche WM-Erfolge mit der Sbornaja sind wiederum eng verknüpft mit jenen Einflüssen, die aus dem Land des noch amtierenden Weltmeisters auf ihn gewirkt haben. Denn die DFB-Mannschaft schaut inzwischen aus der eigenen Heimat oder dem Urlaub zu, wie Russland an einer ähnlichen Geschichte bastelt wie jener, die in Deutschland 2006 unter dem Begriff Sommermärchen Eingang in die WM-Historie fand. Und dass sich die Russen einen Sieg gegen Spanien überhaupt zutrauen, hat sogar ein wenig mit Joachim Löw zu tun.
Bevor der damalige Nationalspieler Tschertschessow zur WM 2002 reiste, spielte er als Torwart beim FC Tirol aus Innsbruck. Trainiert worden war er dort vom heutigen Bundestrainer Löw. Acht Monate lang waren beim FC Tirol die Gehaltszahlungen ausgeblieben, weil der Verein insolvent war und nach dem Titelgewinn auch offiziell bankrottging. "Und trotzdem wurden wir Meister. Das hatte vor allem mit Herrn Löw zu tun. Er hat es irgendwie hingekriegt, dass wir motiviert blieben", hat Tschertschessow in einem Interview mit der Berliner Morgenpost vor der WM erzählt. 2010 erlebte Tschertschessow beim FK Schemtschuschina Sotschi als Trainer die gleiche Situation. Damals habe er sich "erinnert, wie Herr Löw es bei uns in Innsbruck hinbekommen hat. Das hat mir geholfen. Man kann also sagen: Herr Löw hat mich geprägt."
Womöglich helfen ihm diese Erfahrungen auch, die Widrigkeiten bei seiner aktuellen Mission erfolgreich zu überwinden, die als sportlich eher aussichtsloses Unterfangen begonnen hatte und bis kurz vor der WM noch als solches galt. Den FC Bayern hat Tschertschessow zum Vorbild für seine aktuelle Mannschaft erhoben, jedenfalls die Ausgabe der Münchner vor fünf Jahren. "Für mich gibt es ein Ideal: Der Fußball, den die Triple-Mannschaft von Jupp Heynckes 2013 bei Bayern München gespielt hat, das ist mein Fußball. Ökonomisch, gerade, erfolgreich", sagte Russlands Trainer. An anderer Stelle nannte er diesen Stil "effektiv und schnörkellos", und mit diesem lässt sich auch und gerade als konternder Außenseiter Ertrag erwirtschaften. Man darf das wohl durchaus so sagen: Tschertschessow ist geprägt von Löw und inspiriert von Heynckes - und damit aus russischer Sicht bestenfalls sogar gegen die Ballbesitzfußballer aus Spanien erfolgreich.
Inzwischen ist der vor der WM scharf kritisierte 54-Jährige mit der Glatze und dem markanten Schnäuzer dank der bisherigen Turniererfolge fast schon zur Kultfigur aufgestiegen. Initiiert wurde von einem russischen Late-Night-Talker die Aktion "Schnurrbärte der Hoffnung", der eifrig Folge geleistet wurde und deren Ergebnisse sich im Internet bestaunen lassen. Fotos von Männern mit Tschertschessow-Bärten sind dort zu bewundern, Frauen mit aufgemalten Schnäuzern, auch Babys mit Milchbärten. Die Politik stieg in den willkommenen Hype gerne ein, wenngleich nur verbal. "Es gibt ein Team, und es hat eine Idee", stellte Vize-Ministerpräsident Witali Mutko zufrieden fest.
Witalij Mutko in Russland:Der Schattenpräsident der WM
Witalij Mutko sollte der Chef-Organisator des Turniers sein - dann entwickelte er sich zum Gesicht des Staatsdoping-Skandals. Doch sein Einfluss auf Russlands Politik und Sport ist noch immer immens.
Dass ausgerechnet Mutko voll des Lobes ist, lenkt den Blick verstärkt auf ein Thema, das die russische Mannschaft wegen ihrer erstaunlichen Laufleistungen im bisherigen Turnier weiterhin umschwirrt. Wegen des jüngsten großen Staatsdoping-Skandals im russischen Sport hatte Mutko im Dezember sein Amt als Präsident des Fußballverbandes vorläufig bis zum Ende der WM niedergelegt und war auch als OK-Chef zurückgetreten. Tschertschessow begegnet den erneuten Doping-Spekulationen bärbeißig. Alexej Sorokin, Generaldirektor des WM-OKs, wies diese selbstredend zurück. Derartige Debatten sind vor dem großen Spiel gegen Spanien noch weniger erwünscht als ohnehin. Lieber wird über die Zuversicht gesprochen, wenngleich die Russen natürlich auch wissen, dass sie mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit vor ihrem letzten Auftritt auf der Party im eigenen Land stehen.
Stürmer Dsjuba hat sich trotzdem noch ein paar weitere große Begriffe zurechtgelegt: Schon das Achtelfinale sei "ein Traum" und "wie ein Märchen". Trainer Tschertschessow tüftelt nun an der Sensation, die für Dsjuba ja einem "kleinen Wunder" gleichkäme. "Lasst uns die Sportwelt schocken", sagte er.
Zufrieden können die Russen ohnehin mit dem Erreichten sein, wenngleich sich eine Tschertschessows Hoffnung nicht erfüllen wird, über die er vor der WM eher spaßeshalber gesprochen hatte: eine WM-Begegnung mit Deutschland und Löw, die der Spielplan frühestens im Halbfinale hergegeben hätte. "Sollte es so kommen, wäre ich der glücklichste Mann der Welt. Das wäre ein riesiger Erfolg für uns", hatte Tschertschessow dazu gesagt. Nun käme wohl schon der Einzug ins Viertelfinale einem gefühlten Titelgewinn gleich.