TSV 1860 München verpasst den Aufstieg:Der Löwe jault im Schmerz

Lesezeit: 5 Min.

Am Ende gescheitert: Sascha Mölders und der TSV 1860 München verpassen die Relegation zur zweiten Bundesliga. (Foto: Wolfgang Zink/imago)

Beim 1:3 des TSV 1860 München gegen den FC Ingolstadt geht es emotional zu wie auf dem Dorfplatz. Nach einem strittigen und frühen Platzverweis für Löwen-Torwart Hiller retten sich die Ingolstädter in die Relegation.

Von Philipp Schneider, Ingolstadt

Manche Dramen im Fußball verdichten sich in einem einzigen Moment. In den epischen Tragödien des Fußballs allerdings gibt es oft eine stattliche Zahl von Momenten, die sich aneinanderreihen. Am Samstag waren es: Platzverweis für den Torwart, Rudelbildung, mindestens ein nicht gegebener Elfmeter, Beleidigungen rauf und runter, und dann noch eine rote Karte für den Torwarttrainer, der selbstverständlich Harry Huber heißt. Der Harry Huber heißen muss, weil das Drama, das hier erzählt werden soll, das Drama eines deutschlandweit bekannten Drittligisten aus München ist.

Dritte Liga
:Hansa Rostock steigt nach neun Jahren auf

Ein 1:1 gegen Lübeck sorgt für Euphorie an der Ostsee, 7500 Zuschauer dürfen im Stadion dabei sein. Am Ende entscheidet die bessere Tordifferenz.

Am Tag, als der TSV 1860 München nach einer großartigen Saison nur haarscharf die Aufstiegsrelegation zur zweiten Liga verpasste, da sammelten sich allein in der ersten halben Stunde so viele Szenen an, dass die Barden noch länger davon künden können. Es ist allerdings kein schönes Lied, das sie anstimmen werden, sondern ein schräger Blues, unterbrochen von einigen hässlichen Dissonanzen. Und als die Partie nach 90 wilden Minuten abgepfiffen wurde, da ging es in der Ingolstädter Arena zu wie auf dem Dorfplatz in Tutzing. Vor allem Sascha Mölders war kaum zu bremsen, er musste zurückgehalten werden, um nicht noch mit Michael Henke aneinanderzugeraten, dem Sportdirektor der Schanzer.

Wenn der Löwe im Schmerz zusammenbricht, dann jault er so laut, dass die ganze Welt Anteil nehmen soll. So war es vor vier Jahren nach dem Abstieg aus der zweiten Liga. Und so war es am Samstag, als Sechzig mit 1:3 (0:2) am letzten Spieltag gegen den FC Ingolstadt verlor. Und doch muss diesmal die Frage lauten: Jaulte er zumindest halbwegs zu Recht?

Löwen-Geschäftsführer Pfeifer schreit seine Wut heraus

Diesmal war es stellvertretend der für einen Finanz-Geschäftsführer sehr emotionale Marc-Nicolai Pfeifer, der kurz vor dem Halbzeitpfiff, als eigentlich alles schon gelaufen war, seinen ganzen Frust herausschrie auf der Tribüne: "Sag mal, Aytekin, du bist doch wohl ein Idiot!" Da hatte Schiedsrichter Deniz Aytekin gerade Torwarttrainer Harry Huber auf die Tribüne geschickt, der sich seinerseits übrigens anstandslos und lediglich unter der Begleitung von ein paar grummelnden Geräuschen vom Feld verdrückte.

Was war geschehen?

Selbstverständlich muss es auch in den großen Dorfplatz-Dramen eine Szene geben, die sich gleich zu Beginn der Handlung abspielt. In der achten Minute schlug der Ingolstädter Marcel Gaus einen langen Pass auf den linken Flügel, genau in den Lauf von Fatih Kaya, der nun alleine auf das Tor stürmte. Dessen Hüter Marco Hiller blieb nicht auf der Linie, er rannte ihm entgegen, und jeder sah: Er würde viel zu spät kommen. Hiller schaffte es immerhin noch bis vor die Strafraumgrenze, dort allerdings, so sah es aus, zog er die einzige Option, die neben einem frühen Gegentor in Frage kam: Er fällte Kaya, das allseits bekannte Regelwerk sieht dafür eine rote Karte vor. Die Frage, ob er Kaya wirklich traf, das konnten die ersten, eilig gesichteten Fernsehbilder nicht definitiv beantworten. Ganz sicher stieg er recht rücksichtslos ein und riskierte zumindest ein Foul. Das wiederum ist nicht verboten. Aytekin ist ein erfahrener Bundesliga-Schiedsrichter. Aber in der dritten Liga gibt es keinen Videoassistenten.

Berührt er ihn - oder doch nicht? Nach dieser Grätsche gegen Ingolstadts Fatih Kaya (vorne) muss TSV 1860-Torwart Marco Hiller jedenfalls den Platz verlassen. (Foto: Stefan Bösl /imago)

"Das hat die Statik des Spiels natürlich komplett verändert", sagte TSV 1860-Trainer Michael Köllner später auf einer improvisierten Pressekonferenz ohne den Kollegen Tomas Oral. Die eigentliche fiel aus. Zu viel Emotionen offenbar. Und die strittige Szene? "Der Fußball lebt von Tatsachenentscheidungen", sagte Köllner. "Damit muss man klarkommen."

Hiller schlich vom Platz, auf dem Weg nach draußen musste er sich noch ein paar knackige Worte der Ingolstädter Spieler anhören. Und als sich dann der Ersatztorwart Tom Kretzschmar die Handschuhe überstreifte und für den Feldspieler Marius Willsch ins Spiel kam, da war die Partie zwar noch nicht gelaufen, aber es sah düster aus: Keine einzige Spielminute hatte Ersatzmann Kretzschmar in dieser Saison auf dem Platz gestanden. Konnte das gut gehen? Sagen wir so: An Kretzschmar lag es nicht.

Die Ausgangslage für die Partie war ja eindeutig: Sechzig musste gewinnen, um den Relegationsplatz zu erreichen. Ingolstadt genügte ein Unentschieden. Draußen vor der Arena bildeten die Hundertschaften der Polizei ein provisorisches Gehege um all die Löwen, die den Weg aus München auf sich genommen hatten. Und die dort auf dem Parkplatz eingezäunt wurden, auf eine tiptop Bildübertragung verzichteten, um mit ihren Gesängen aus hunderten Kehlen die Mannschaft innerlich zu erbauen. Dort waren sie zwar in der Minderheit, weil auch die Gastgeber ihre Fans mobilisiert hatten. Aber der Schmähgesang "Ohne Audi wärt ihr gar nicht hier" entwickelte doch gewisse akustische Wucht - bis zum ersten Gegentor.

Ruppig und wild legten die Mannschaften los, als gelte es, das Fell des Zweitliga-Bären in den ersten zehn Minuten zu verteilen. Stefan Lex und Sascha Mölders setzten jeweils einen Kopfball neben das Tor. Aber die Löwen hatten gleich zu Beginn riesiges Glück, als Dennis Erdmann nach einem Eckball den ausgestreckten Arm zur Hilfe nahm, um zu klären. Nach dem frühen Platzverweis für Hiller hatte Stefan Lex sogar aus kurzer Distanz die Chance zur Führung (21.) - aber dann flankte der unbedrängte Michael Heinloth den Ball ins Zentrum, Stefan Kutschke lenkte den Ball mit dem Kopf vorbei an Kretzschmar, der wie paralysiert auf der Linie stehen blieb (26.).

Zu seinem Schutz muss man sagen: Jegliche Bewegung wäre einer völlig sinnlosen Kalorienverbrennung gleichgekommen.

In Unterzahl lief der Löwe nun gegen ein Schicksal an, das sich immer klarer abzeichnete. Als Dennis Erdmann, der sich selbst "Earthman" nennt, damit rühmt, notfalls den Papst zu foulen, und zu dessen Spezialgebiet gezielte Provokationen zählen, kurz darauf mit Kutschke aneinandergeriet, da kam es zur Rudelbildung im Löwen-Strafraum. "Kutsche, lass das, der will genau das!", rief Ingolstadts Trainer Tomas Oral - möglicherweise war das eine astreine Analyse.

Für ein paar Minuten kommt so etwas wie Phantomspannung auf

Kutsche beruhigte sich. Alle beruhigten sich. Und schon rollte ein Ingolstädter Konter über Robin Krauße, der Marc Stendera freispielte, der wiederum den Ball an Kretzschmar vorbei ins leere Tor schob (44.).

Die Emotionen kehrten zurück, Harry Huber sah Rot. Die Pause.

Als der Ball wieder rollte, da gab sich Sechzig tatsächlich noch nicht geschlagen. Aber Ingolstadt fiel es sehr leicht, mit erstaunlich wenig Energie diese Partie zu verwalten. Die Münchner brauchten schließlich drei Tore und hatten einen Mann weniger auf dem Platz. Dennoch: Erst hatte Richard Neudecker die Chance zum Anschlusstreffer (53.), dann Mölders (54.). Als Erdmann dann tatsächlich neun Minuten vor Schluss noch auf 1:2 verkürzte, kam für ein paar Minuten so etwas wie Phantomspannung auf.

Aber am Ende passte es zu dieser vogelwilden Partie, dass sie noch das vogelwilde Ende erhielt, das sie verdiente. Nach einem Foul von Erik Tallig hielt der Ersatz-Tormann Kretzschmar tatsächlich einen Elfmeter von Dennis Eckert Ayensa. Weil der allerdings beim Versuch, den Abpraller zu erlaufen, von Phillipp Steinhart gefoult wurde, gab es einen weiteren Strafstoß. Und dann erlegte Marcel Gaus den Löwen endgültig. Ingolstadt darf nun am Donnerstag und Sonntag in der Relegation antreten. Sechzig spielt ein drittes Jahr in der dritten Liga.

Was seine nächsten Ziele seien, wurde Köllner gefragt. "Fragt mich nicht nach Zielen, ich werde mich jetzt erst einmal betrinken", brummte er in seinen Bart. "Zwei Dinge habe ich jetzt vor: Frustsaufen und Rasieren."

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Zweite Liga
:Eine Quote wie bei Thomas Gottschalk

Schalke, der HSV, vielleicht auch Bremen und Köln: In der kommenden Saison droht eine unfreiwillig attraktive zweite Liga. Wie man clever arbeitet, könnten die Traditionsmarken von anderen lernen.

Von Philipp Selldorf

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: