Von Weitem sieht die Felswand steil aus. Genaugenommen ziemlich senkrecht. Von der Oberkante aus wirkt sie noch etwas senkrechter; und das schöne Städtchen Oberammergau liegt bedenklich weit in der Tiefe. Hier oben soll man übernachten? Und zwar nicht an, unter, neben oder über der Wand, sondern mittendrin.
Es ist nichts für Menschen mit Höhenangst, was Bergführer Simon Bartl seit Kurzem auf dem Laber bei Oberammergau anbietet: Eine Übernachtung in der Felswand. Schlafen auf einem Portaledge, einer in den Fels gehängten Pritsche, wie sie Extremkletterer bei langen Kletterrouten verwenden.
Als Übernachtungsgast muss man nicht unter Einsatz von Leib und Leben die Wand von unten erklettern, sondern läuft bequem den Wanderweg zum Gipfel hoch und geht dann ohne weitere Anstrengungen direkt zum gemütlichen Teil über. Später kann man dann in jedes Gespräch mit Hobbykletterern beiläufig Sätze einflechten, die mit Variationen von "Letztens auf dem Portaledge" beginnen. Das war jedenfalls der Plan. Aber kurz vor der Testübernachtung am Kofel, quasi Nachbarberg des Laber, machen sich leise Zweifel breit.
Von einer Wiese knapp unterhalb des Gipfels aus sieht man die steile Nordwand mit der Schlafstätte: Nebeneinander schweben da zwei 1, 30 mal zwei Meter breite Matten mit Platz für je zwei Personen, auf Rahmen gespannt. Mit Bändern sind sie an je einem in die Wand gebohrten Haken befestigt, der mit einem zweiten gesichert ist, eine luftige Angelegenheit. Und es geht ja nicht darum, darauf mit zusammengebissenen Zähnen kurz auszuharren. Nein, entspannen, hinlegen, die Augen schließen soll man, eine ganze Nacht lang. Diesen feinen Unterschied hätte man sich vielleicht vorher klarmachen sollen.
Aber für solche Bedenken ist es jetzt zu spät. Immerhin, Simon wirkt nicht wie ein Hallodri, trotz wildem Lockenkopf, wettergegerbtem Gesicht und jugendlichem Strahlen. In aller Ruhe schaut er die Ausrüstung durch, verteilt zusätzliche Karabiner und feste Bandschlingen, mit denen die beiden Übernachter und das Material später am Berg verankert werden sollen. Er prüft noch, ob der Klettergurt richtig angelegt ist, dann geht es zum Probeliegen.
"Vorsicht, hier ist Absturzgelände", warnt Simon, wenn man die kurze Strecke zum Rand der Steilwand zu hastig geht. Objektiv betrachtet sind diese harmlosen paar Meter vermutlich der gefährlichste Teil der ganzen Unternehmung, auch wenn es sich anders anfühlt. Sobald es in die Wand geht, ist man am Klettergurt gesichert, und Simon achtet argwöhnisch darauf, dass niemand im Gewirr von Karabinern und Seilen versehentlich auf die Idee kommt, daran etwas zu ändern. Letzte Instruktionen: Nie die Sicherung lösen, auf dem Portaledge lieber in die Mitte treten, damit es nicht umklappt, ausgezogene Schuhe und Rucksäcke mit Karabinern befestigen, nie die Sicherung lösen. Ist gut.
Die Grundidee stammt aus den 1930er Jahren, als Kletterer erstmals hohe Steilwände in den Alpen bezwangen, für die mehrere Tage nötig waren. Statt die Nächte kettenrauchend auf schmalen Felsvorsprüngen zu verbringen, entwickelten sie hängende Säcke oder nahmen Hängematten mit. An Schlaf war darin noch nicht unbedingt zu denken.
In den 1950er und 60er Jahren wurde bei den sogenannten Big Walls im Yosemite-Park in den USA nachgebessert: Die Hängematten bekamen gepolsterte Taschen für Kopf und Schultern und ließen sich an einem Einzelhaken aufhängen. Die Kletterer zogen sie von den gesicherten Plätzen aus in einem Gepäcksack hinter sich her; das ist noch heute so.
Simon hat vom Einstieg in die Wand zum Bett ein Seil gespannt, an dem man sich wie im Klettersteig entlanghangeln kann, die Füße gegen den Fels gestemmt, mit dem Klettersteigset sicher am Seil befestigt. Das ist zwar recht einfach, aber es ist trotzdem sehr beruhigend, dass Simon darauf besteht, bei jedem Schritt in Griffweite zu sein. Ein paar hundert Meter über dem Boden kann es jedenfalls nicht schaden, wenn man einmal alles richtig macht.
Nach der Hangelei über dem Abgrund: kurzes Aufatmen. Der federnde Kunststoff des Portaledges wirkt zuverlässig, erstmal hinsetzen. "Alles in Ordnung?", fragt Simon. Ja, eigentlich schon. Die Beine baumeln über das Gestänge, der Blick zwischen den Füßen nach unten verursacht wohliges Kribbeln. Das Tal in der Tiefe liegt schon im Schatten, über den Bergen kippt die Abendsonne noch einige Kübel warmes Licht aus. Vielleicht macht ein Rest Panik für solche Dinge empfänglicher; aber es ist alles sehr bewegend.
Wenn man so etwas häufiger macht, soll eine Portaledge-Übernachtung nicht viel anders sein als Camping, heißt es. Nun ja. Jedenfalls ist das Wandzelt vielseitig einsetzbar: 2010 etwa protestierte der Extremkletterer Stefan Glowacz gegen die Eröffnung der Aussichtsplattform Alpspix bei Garmisch-Partenkirchen, indem er sich auf einem Portaledge an diese hängte, als wäre nichts dabei.
Mit der Dämmerung wird es kühl, am Seil geht es zurück aufs Festland. Am Gipfel werden Brot, Wurst und Käse ausgepackt, irgendwoher taucht ein Tragerl Radler auf. Wie kommt man darauf, so eine Wandübernachtung für Anfänger zu organisieren? "Mir ging es um das Naturerlebnis", sagt Simon. Ihm gefalle es, hier einzuschlafen und aufzuwachen, das müsste doch auch anderen gefallen. Außerdem wollte er nicht mehr ganz so oft weit weg auf Touren mit Gästen unterwegs sein; er hat 2011 eine Bergschule gegründet und möchte auch Aktivitäten in der Nähe anbieten. "Die Berge sind auch hier schön, und man kann viel mehr machen, als die Leute denken", sagt er. Kann sein. Oberammergau hat einen eher verschlafenen Ruf, die jungen Wilden machen anderswo Urlaub. Sie wissen ja nicht, was ihnen entgeht.
Letzte Gelegenheit für menschliche Bedürfnisse oder Zähneputzen, danach wird ins Bett geturnt. Der Außenplatz soll es sein - wenn schon, dann richtig. Inzwischen fühlt sich alles schon vertrauter an, langsam kann man die unfassbare Aussicht genießen, ein Arm baumelt ins Leere. Bei Gewitterwarnung hätte Simon die Übernachtung abgesagt. Für leichten Regen hat er eine Zelthülle dabei, die sich über das Portaledge spannen lässt.
Was nach einer offensichtlichen Lösung klingt, wurde hart erarbeitet. Der US-Kletterer Warren Harding testete 1968 erstmals sein fledermausartiges Bat-Tent zum Aufhängen, das auch vor Sturm und Regen schützen sollte. Allerdings stand "Bat" für "Basically Absurd Technology", nicht ganz zu Unrecht. "Es war eine gute Idee", erklärte Harding später. "Aber beim ersten Einsatz stellten wir fest, dass kein Wasser ablief, es blieb alles drin. Ein paar Tage haben wir schwimmend in dem verdammten Ding verbracht, wir wären fast erfroren."
Ein nützlicheres Konstrukt entwickelte Greg Lowe, Gründer des Outdoor-Ausstatters Lowe Alpine: das Lurp-Zelt. Der Boden war auf einen zerlegbaren Rahmen gespannt, sodass Wasser ablaufen konnte und der Kletterer eine ebene Schlaffläche hatte. Das Portaledge war erfunden. In den 1980ern brachte es der Ingenieur und Kletterer John Middendorf zur Marktreife.
Gegen die Anfangsmodelle ist Simons modernes Portaledge das reinste Vier-Sterne-Hotel. Nur der Klettergurt stört etwas im Schlafsack, und wegen der Sicherungs-Schlinge geht der Reißverschluss nur halb zu. Aber wer will schon im Schlaf über den Rand rollen. Der Bettnachbar bewegt sich, alles wackelt, aber das Ganze wirkt beruhigend robust. Unten sieht man die Lichter von Oberammergau, Sankt Peter und Paul schlägt jede Viertelstunde die Zeit. Das Wetter hält. Als Greg Lowe sein Lurp-Zelt 1972 bei der ersten Winterbesteigung des Half Dome im Yosemite Park erstmals verwendete, wehte der Schnee hinein.
Irgendwann läutet es zehn, dann plötzlich viertel nach drei. Beim nächsten Gedanken ist es schon halb sieben, hinter den Bergen wird es hell. Bald geht die Sonne auf, es ist wohl Zeit zum Aufstehen. Später, auf festem Boden, wird Simon in der Morgensonne Kaffee kochen. Wenn man nur ewig so schweben könnte, im warmen Schlafsack, zwischen Schlafen und Wachen, zwischen Berg und Himmel.