Der Mann trägt die Nummer 40 in der Todesopfertabelle des Mount Everest. Die Tabelle gibt es wirklich, sie ist im Internet auf der Seite des als pedantisch geltenden Bergchronisten Eberhard Jurgalski, 8000ers.com, zu finden. Der Name von Nummer 40: Sherpa Dawa Nuru. Todesursache: Sturz in eine Gletscherspalte. 1978 war das, lange vor der Belagerung des Everests durch große Reiseveranstalter, die seit dem jüngsten Lawinenabgang mit 16 toten Sherpas als die Scharlatane des Bergtourismus mal wieder im Fegefeuer der Schlagzeilen landen.
Sherpa Dawa Nuru starb genau in jenem Jahr, als Peter Habeler und Reinhold Messner der Menschheit klarmachten, dass eine Besteigung des weltweit höchsten Berges auch ohne Flaschensauerstoff möglich ist. Auf den Gipfel schafften es damals 25 Menschen - ein zu jener Zeit historischer Höchstwert.
Heute stehen pro Jahr mehr als 500 Touristen auf dem höchsten Berg der Erde.
Schon vier Jahre zuvor waren bereits fünf Nepalesen bei Ausübung ihrer Arbeit verunglückt. In einer Lawine. Erfolgreiche Gipfelersteigungen: null. Wenn das kürzliche Unglück als das erste und schlimmste für die örtlichen Bergführer ausgiebig diskutiert wird, so mag das mit einer neuen Sensibilität für unverantwortliches Reisen von Hobbybergsteigern zu tun haben.
Rein statistisch war der Everest vor 40 Jahren jedenfalls viel gefährlicher - zumindest in Relation zum Aufkommen, das seit jeher ein touristisches ist.
Denn nur zu gerne wird in der jüngsten Debatte über Everesttourismus auch auf den Unterschied zwischen Bergsteigern und Touristen hingewiesen. Dabei schwingt häufig mit, dass Bergsteiger selbstverständlich von hehren Zielen geleitet werden, während Touristen die naiven Opfer des bösen Kommerzes sind. Stellt sich die Frage: Wer darf dann künftig überhaupt noch bergsteigen?
Amateure, deren laienhaftes Agieren automatisch eine gewisse Wertschöpfung durch die Schaffung von Arbeitsplätzen (ergo Bergführer) bedeutet? Nur noch Profis, die zwar weniger auf Unterstützung durch Ortskundige angewiesen sind, aber letztlich geschäftlichen Interessen nachgehen, indem sie häufig ihre Sponsoren in Szene setzen?
Dürfen künftig nur noch jene auf Gipfel, die glaubhaft nachweisen können, dass es tatsächlich um das Naturerlebnis geht und nicht um das Verlangen, den Montagmorgen in der Kanzlei oder Redaktion mit dem prahlerischen Satz zu starten: Ich war am Wochenende am Matterhorn?
"Diese Unterscheidung zwischen Tourist und Bergsteiger ist Blödsinn"
Die etwas ermüdende, aber gemeinhin anerkannte Definition der Welttourismusorganisation besagt, leicht gekürzt: "Touristen sind Personen, die zu Orten außerhalb ihres gewöhnlichen Umfeldes reisen und sich dort für nicht mehr als ein Jahr aufhalten, aus Freizeit- oder Geschäftsmotiven." Oder wie Bernd Kullmann meint: "Diese Unterscheidung zwischen Tourist und Bergsteiger ist doch Blödsinn."
Kullmann, inzwischen fast 60 Jahre alt und seit vielen Jahren in der Geschäftsführung eines Sportartikelherstellers tätig, stand ebenfalls 1978 auf dem Gipfel des Everest, und wie viele seiner Weggefährten verfolgt er die Geschehnisse mit einer gewissen Schizophrenie: "Der Everest ist ein riesiges Geschäft geworden, an dem die Sherpas für dortige Verhältnisse extrem gut verdienen", sagt Kullmann, der Pragmatiker. Der Moralist in Kullmann will vom Pragmatiker nichts wissen.
"Man muss sich fragen, warum die Touristen nicht mithelfen." Er sei bei seiner Besteigung insgesamt sieben Mal durch den gefährlichen Khumbu-Eisbruch gestiegen, an dem die Sherpas verunglückten. Er teilte mit ihnen gewissermaßen das Risiko. Heute seien die Gäste oftmals reine Nutznießer der Arbeit von Angestellten. Kullmann beobachtete: "Während das Leistungsniveau im Bergsport seit den Siebzigern explosionsartig gestiegen ist, ist es ausgerechnet am höchsten Berg der Erde gesunken."
So geht es auch: Trekking-Touristen auf dem Kala Pattar genießen in 5545 Meter Höhe den Blick auf die Everest-Gruppe.
(Foto: dpa)Der Verfall des Berges vom alpinistisch ernst zu nehmenden Abenteuer zum "Pisten-Bergtourismus" (Reinhold Messner) mit Trassen und Seilgeländern ist nur allzu logisch - sofern man ein vor allem im englischsprachigen Raum verbreitetes Modell aus der Tourismuswissenschaft als Schablone verwendet. Das Modell stammt von Richard Butler, heißt Destinationslebenszyklus und geht davon aus, dass der Tourismus verschiedene Phasen durchläuft.
Mit der Zeit verändern sich nicht nur die touristische Infrastruktur und die Orte gravierend, es werden mit jeder Phase auch unterschiedliche Gästetypen angelockt. Damit wandelt sich die Beziehung zwischen Einheimischen und Gästen. Bis eine gewisse Kapazitätsgrenze erreicht ist. Wenn es einen Unterschied gibt, so ist es weniger die zwischen Tourist und Bergsteiger als zwischen Pionier und Nachfolger.
Die ersten Phasen gehören einigen wenigen Entdeckern; im Falle des Everests sind das etwa Aspirant George Mallory (1924) und Erstbesteiger Edmund Hillary (1953), im weiteren Sinne auch noch Habeler, Kullmann und Messner. Im Grunde sind sie Vertreter jener Spezies, die nach Hans Magnus Enzensbergers Tourismus-Kritik das zerstören, was sie suchen, indem sie es finden.
Denn erst in ihrem Gefolge kommen bei entsprechendem Anreiz (und der Everest ist ein solcher) die Massen, anfangs individuell, dann organisiert. Und mit ihnen kommen das große Geschäft und die Probleme.