Süddeutsche Zeitung

Tourismus extrem am Mount Everest:Hinauf in der Herde

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Früher stiegen 25 Menschen im Jahr auf den Mount Everest, heute stehen 500 Bergsteiger Schlange auf dem Weg nach oben. Der höchste Berg der Welt ist ein Symbol für die Entwicklung vieler Urlaubsorte zum reinen Konsumprodukt.

Von Dominik Prantl

Der Mann trägt die Nummer 40 in der Todesopfertabelle des Mount Everest. Die Tabelle gibt es wirklich, sie ist im Internet auf der Seite des als pedantisch geltenden Bergchronisten Eberhard Jurgalski, 8000ers.com, zu finden. Der Name von Nummer 40: Sherpa Dawa Nuru. Todesursache: Sturz in eine Gletscherspalte. 1978 war das, lange vor der Belagerung des Everests durch große Reiseveranstalter, die seit dem jüngsten Lawinenabgang mit 16 toten Sherpas als die Scharlatane des Bergtourismus mal wieder im Fegefeuer der Schlagzeilen landen.

Sherpa Dawa Nuru starb genau in jenem Jahr, als Peter Habeler und Reinhold Messner der Menschheit klarmachten, dass eine Besteigung des weltweit höchsten Berges auch ohne Flaschensauerstoff möglich ist. Auf den Gipfel schafften es damals 25 Menschen - ein zu jener Zeit historischer Höchstwert.

Heute stehen pro Jahr mehr als 500 Touristen auf dem höchsten Berg der Erde.

Schon vier Jahre zuvor waren bereits fünf Nepalesen bei Ausübung ihrer Arbeit verunglückt. In einer Lawine. Erfolgreiche Gipfelersteigungen: null. Wenn das kürzliche Unglück als das erste und schlimmste für die örtlichen Bergführer ausgiebig diskutiert wird, so mag das mit einer neuen Sensibilität für unverantwortliches Reisen von Hobbybergsteigern zu tun haben.

Rein statistisch war der Everest vor 40 Jahren jedenfalls viel gefährlicher - zumindest in Relation zum Aufkommen, das seit jeher ein touristisches ist.

Denn nur zu gerne wird in der jüngsten Debatte über Everesttourismus auch auf den Unterschied zwischen Bergsteigern und Touristen hingewiesen. Dabei schwingt häufig mit, dass Bergsteiger selbstverständlich von hehren Zielen geleitet werden, während Touristen die naiven Opfer des bösen Kommerzes sind. Stellt sich die Frage: Wer darf dann künftig überhaupt noch bergsteigen?

Amateure, deren laienhaftes Agieren automatisch eine gewisse Wertschöpfung durch die Schaffung von Arbeitsplätzen (ergo Bergführer) bedeutet? Nur noch Profis, die zwar weniger auf Unterstützung durch Ortskundige angewiesen sind, aber letztlich geschäftlichen Interessen nachgehen, indem sie häufig ihre Sponsoren in Szene setzen?

Dürfen künftig nur noch jene auf Gipfel, die glaubhaft nachweisen können, dass es tatsächlich um das Naturerlebnis geht und nicht um das Verlangen, den Montagmorgen in der Kanzlei oder Redaktion mit dem prahlerischen Satz zu starten: Ich war am Wochenende am Matterhorn?

"Diese Unterscheidung zwischen Tourist und Bergsteiger ist Blödsinn"

Die etwas ermüdende, aber gemeinhin anerkannte Definition der Welttourismusorganisation besagt, leicht gekürzt: "Touristen sind Personen, die zu Orten außerhalb ihres gewöhnlichen Umfeldes reisen und sich dort für nicht mehr als ein Jahr aufhalten, aus Freizeit- oder Geschäftsmotiven." Oder wie Bernd Kullmann meint: "Diese Unterscheidung zwischen Tourist und Bergsteiger ist doch Blödsinn."

Kullmann, inzwischen fast 60 Jahre alt und seit vielen Jahren in der Geschäftsführung eines Sportartikelherstellers tätig, stand ebenfalls 1978 auf dem Gipfel des Everest, und wie viele seiner Weggefährten verfolgt er die Geschehnisse mit einer gewissen Schizophrenie: "Der Everest ist ein riesiges Geschäft geworden, an dem die Sherpas für dortige Verhältnisse extrem gut verdienen", sagt Kullmann, der Pragmatiker. Der Moralist in Kullmann will vom Pragmatiker nichts wissen.

"Man muss sich fragen, warum die Touristen nicht mithelfen." Er sei bei seiner Besteigung insgesamt sieben Mal durch den gefährlichen Khumbu-Eisbruch gestiegen, an dem die Sherpas verunglückten. Er teilte mit ihnen gewissermaßen das Risiko. Heute seien die Gäste oftmals reine Nutznießer der Arbeit von Angestellten. Kullmann beobachtete: "Während das Leistungsniveau im Bergsport seit den Siebzigern explosionsartig gestiegen ist, ist es ausgerechnet am höchsten Berg der Erde gesunken."

Der Verfall des Berges vom alpinistisch ernst zu nehmenden Abenteuer zum "Pisten-Bergtourismus" (Reinhold Messner) mit Trassen und Seilgeländern ist nur allzu logisch - sofern man ein vor allem im englischsprachigen Raum verbreitetes Modell aus der Tourismuswissenschaft als Schablone verwendet. Das Modell stammt von Richard Butler, heißt Destinationslebenszyklus und geht davon aus, dass der Tourismus verschiedene Phasen durchläuft.

Mit der Zeit verändern sich nicht nur die touristische Infrastruktur und die Orte gravierend, es werden mit jeder Phase auch unterschiedliche Gästetypen angelockt. Damit wandelt sich die Beziehung zwischen Einheimischen und Gästen. Bis eine gewisse Kapazitätsgrenze erreicht ist. Wenn es einen Unterschied gibt, so ist es weniger die zwischen Tourist und Bergsteiger als zwischen Pionier und Nachfolger.

Die ersten Phasen gehören einigen wenigen Entdeckern; im Falle des Everests sind das etwa Aspirant George Mallory (1924) und Erstbesteiger Edmund Hillary (1953), im weiteren Sinne auch noch Habeler, Kullmann und Messner. Im Grunde sind sie Vertreter jener Spezies, die nach Hans Magnus Enzensbergers Tourismus-Kritik das zerstören, was sie suchen, indem sie es finden.

Denn erst in ihrem Gefolge kommen bei entsprechendem Anreiz (und der Everest ist ein solcher) die Massen, anfangs individuell, dann organisiert. Und mit ihnen kommen das große Geschäft und die Probleme.

Oft schlägt die Faszination der kulturellen Unterschiede um in offene Feindseligkeit. Die Bereitschaft, im Wortsinne über Leichen zu gehen, ergibt sich vor allem durch die Anonymität, die in den Touristenmassen gedeiht. Der Clash der Kulturen wird auch von den Massenmedien gerne inszeniert.

Vergangenes Jahr war der Everest in die Schlagzeilen geraten, nachdem Simone Moro und Ueli Steck - beides hervorragende Bergsteiger - von Sherpas verprügelt worden waren. Dass Steck im gleichen Jahr eine unglaubliche Erstbegehung an der Annapurna-Südwand schaffte, geriet zur Randnotiz.

Dabei ist der Everest nur ein besonders exponiertes Beispiel dafür, wie Berge und Wanderwege im touristischen Lebenszyklus zum Massenprodukt degenerieren. Das Matterhorn, wo die zum Teil überforderten englischen Erstbesteiger im Jahr 1865 einen ihrer einheimischen Bergführer, Michael Croz, mit in den Tod rissen, macht den Talort Zermatt längst reich.

Allein für eine Besteigung kassieren Schweizer Bergführer knapp 1000 Euro, obwohl sich am Einstieg morgens abschreckend viele Seilschaften stauen. An der Zugspitze - gerne wörtlich nehmen - boxen sich Wochenend-Abenteurer von der Bergstation zum Gipfel durch. Im Umkreis von zehn Kilometern stehen gleichzeitig die schönsten Gipfel leer.

An der prestigeträchtigen Watzmann-Ostwand starben inzwischen mehr als 100 Menschen. Und kaum ein Bergreiseveranstalter kann es sich leisten, auf populäre Weitwanderwege wie den E5 und Bergklassiker wie Großglockner oder Mont Blanc zu verzichten.

Interessanterweise geben die deutschen Wanderfreunde in einer Umfrage des Deutschen Wanderverbandes nicht etwa das Rennen in Herden, sondern das Naturerlebnis als wichtigste Motivation für ihr Hobby an.

Oswald Oelz, Himalaya-Pionier und Höhenmediziner, meint: "Viele Menschen haben offenbar das Bedürfnis, sich in großen Horden zu gesellen." Er findet die Konzentration der Massen gar nicht so schlecht. "Ich würde Reservate schaffen, in dem sich die Fliegen um den Kuhdreck formieren können." Der Kuhdreck, das seien Prestigeberge wie Everest und Matterhorn, und eigentlich müsste man dort richtige Trassen bauen.

Er selbst würde es zwar nicht tun, aber es sei auch nichts dagegen einzuwenden, dass sich "Konsumenten" (Oelz) ihr Bergerlebnis einfach kaufen anstatt es eigenverantwortlich zu erarbeiten. Es sei nur immer noch "zu billig". Eine Besteigung mit einem Veranstalter kostet schon jetzt zwischen 30 000 und 50 000 Euro, aber "ich habe ja auch keinen Van Gogh im Zimmer hängen", sagt Oelz. Es gebe für weniger betuchte Bergsteiger genügend wunderschöne, viel günstigere Berge, an denen keine Fliegen schwirren.

Warum kein Wellness-Hotel im Basislager oder Rundflüge über dem Khumbu-Eisfall?

Laut Butlers Destinationslebenszyklus müssen sich die Everest-Veranstalter tatsächlich etwas einfallen lassen. Denn ohne Erneuerung drohen nach der Phase der Massen Stagnation und Abwärtstrend. Strategien gibt es verschiedene.

Mehr Nachhaltigkeit wäre eine Möglichkeit. Aber warum nicht gleich Skipisten, ein ordentliches Wellness-Hotel im Basislager oder gar Helikopter-Flüge (technisch geht das schon!) über der Unglücksstelle am Khumbu-Eisfall?

Am Matterhorn wird unterhalb des viel begangenen Hörnligrats demnächst mit der Renovierung der Hütte begonnen; man kann es als eine Investition für die Zukunft bezeichnen. Die neue Hörnlihütte wird weniger Betten bieten, dafür aber mehr Komfort.

Eben das, was der Bergsteiger der Moderne verlangt.

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SZ vom 30.04.2014
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