Städtereise in Estland:Tallinn vor dem Ansturm

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Im Sommer flüchten die Einwohner aus Estlands Hauptstadt: Die Kreuzfahrer kommen. Doch im Frühjahr ist die Stadt ein Genuss.

Matthias Kolb

Als unbezwingbares Bollwerk stehen die steinernen Wehrtürme mit den roten Ziegeldächern rund um die Altstadt von Tallinn. Der Imposanteste heißt "Dicke Margarete", und vor dem inneren Auge des Betrachters krachen Kanonenkugeln gegen die Stadtmauern, doch die erzittert nicht einmal. Tallinn wurde nie erobert, weil die Festung eine der besten Verteidigungsanlagen Nordeuropas besaß und von dieser ist viel erhalten. Anders als im Mittelalter sind Gäste heute in der früheren Hansestadt Reval willkommen - und sie fallen im Sommer in Scharen ein. Schuld sind riesige Schiffe.

Gäste willkommen: Estlands Hauptstadt Tallinn. (Foto: Foto: AFP)

Seit Jahren hat sich Tallinn als beliebtes Ziel für Kreuzfahrten etabliert und so tapsen ab Juni Hunderte Amerikaner mittleren Alters den bunten Schildern ihrer Reiseführer hinterher und knipsen die gut erhaltenen Häuser mit den typischen spitzen Giebeln. Lastenzüge an den schmalen Fassaden erinnern daran, dass hier einst eine Kaufmannsfamilie wohnte. Natürlich haben sich Restaurants und Souvenirhändler auf die kaufkräftige Klientel von den Schiffen eingestellt, und so versuchen als Knappen oder Burgfräulein verkleidete Studenten, den Ausländern Leckereien und Schmuck anzubieten oder sie in die "Olde Hanse" zu locken. Hier wird bei Kerzenschein Bier in Tonkrügen und Bären- und Elchfleisch serviert, während die schmackhaft-deftigen Gerichte im "Kuldse Notsu Korts" dem Namen des Lokals Ehre machen - es heißt "Zum goldenen Ferkel".

Angesichts der wachsenden Popularität - ein US-Fachmagazin kürte Tallinn jüngst neben Barcelona, Venedig und Kopenhagen zur "Top cruise destination" in Europa - sollte man dem Beispiel der Stadtbewohner folgen: Sobald Mittsommer am 21. Juni vorüber ist, ziehen sich die meisten der 400.000 Tallinner aufs Land zurück und überlassen die Altstadt den Touristen. Wer jedoch im Frühling an die Ostsee fährt, der entdeckt ohne Urlaubermassen eine einzigartige Mischung aus Mittelalter und Moderne - und trifft zahlreiche Einheimische, die noch nicht aus der Stadt geflohen sind.

Nach dem ausgesprochen harten Winter nutzen die Menschen jede Gelegenheit, draußen zu sitzen und die Sonne zu genießen - sei es auf dem zentralen Raekojaplats mit dem spätgotischen Rathaus, an dessen Mauern noch ein Pranger befestigt ist, oder in einem der vielen Innenhöfe. Je näher Mittsommer kommt - von den Esten "Jaani" genannt -, desto länger bleibt es hell und bei gutem Wetter finden etwa in den Meisterhöfen nahe der Vene-Straße Livekonzerte statt. Nebenan bietet "Chez Pierre" die besten Pralinen der Stadt: Die Chili-Trüffel vergisst man nicht so schnell.

Durch die Altstadt lässt man sich am besten von der eigenen Neugier führen: Viele architektonische Details bereichern die Fassaden, von einem Dach blickt eine schwarze Katze auf die Pikk-Straße. "Die alten Häuser sind der Schatz, den wir bewahren müssen", sagt Boris Dubovik, der Chef der Denkmalschutzbehörde.

Man könnte sagen, Dubovik wacht über das Erbe zweier Städte: Jahrhundertelang war die Hansestadt Reval aufgeteilt in die Unterstadt, wo die Kaufleute wohnten, und die Oberstadt - auf dem Domberg (estnisch: Toompea) residierten Bischöfe, Ordensleuten und Adelige.

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Matthias Kolb

Der steile Aufstieg zur Oberstadt durch die Gasse "Pikk jalg", vorbei an Malern und Lebenskünstlern, lohnt sich: Bei gutem Wetter blickt man auf die Altstadt hinab und sieht am Horizont die vielen Fähren, die zwischen Tallinn und dem achtzig Kilometer entfernten Helsinki pendeln. Gegenüber dem Parlament thront die mächtige Newskij-Kathedrale, die der russische Zar 1894 als Zeichen seines Machtanspruchs bauen und mit prunkvollen Ikonen und viel Gold dekorieren ließ.

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Wer nach Erholung sucht, der findet in Tallinn Restaurants mit Speisen aus aller Herren Länder - sei es japanisches Sushi, Pizza und Pasta im "Controvento" oder russische Küche im "Tschaikovsky". Ein Geheimtipp ist das neue Lokal "Komeet" im obersten Stock des Solaris-Einkaufszentrum, wo die junge Köchin Anni Arro estnische Küche modern interpretiert - da trifft eingelegte rote Beete auf Rosmarin und gekochter Buchweizen auf Basilikum. Von der Dachterrasse oder durch die Panoramafenster blickt man auf die Altstadt und rüstet sich für neue Taten.

Wem ganz nach Erholung ist, der sollte dem Beispiel der Finnen folgen: Viele nutzen den Tagesausflug nach Estland nicht nur dazu, billigen Alkohol einzukaufen, sondern sich in einem der zahlreichen Spas (estnisch: Illusalong) verwöhnen zu lassen. Die Preise sind im europäischen Vergleich günstig und wer sich nicht in eines der großen Hotels wie "Telegraaf" oder "Swissotel" traut, der findet zahlreiche Wellness-Angebote in den Shopping-Zentren oder in der Altstadt - etwa bei Day Spa.

In der Boomzeit wurden viele Hotels gebaut, also in jenen Jahren vor 2008, als die estnische Wirtschaft schneller wuchs als die chinesische. Nun wurden in der Krisenzeit die Preise oftmals gesenkt oder spezielle Angebote entworfen. Es lohnt sich also, vor der Abreise online nach guten Tarifen zu suchen - man wird sie finden und entweder günstig wohnen oder sich auf einmal eine Nobelherberge leisten können.

"Quallen-Drink und Bier"

Die Kneipendichte rund um die Altstadt ist hoch und reicht vom ältesten estnischen Pub "Hell Hunt" und das eher schicke "Café Kultus" (früher: "Café Moskva") über die unter Denkmalschutz stehende "Valli Baar". Hier hat sich seit der Sowjetzeit nicht viel geändert: Vor der Theke stehen hohe Barstühle, an den Wänden hängen Plastikblumen und auf den Schnapsflaschen kleben bunte Preisschilder. Das Angebot an Alkohol ist seit der Unabhängigkeit Estlands 1991 gewachsen, der grimmige Barkeeper arbeitet schneller, aber der Service ist noch immer etwas ruppig. Berühmt ist der Quallen-Drink namens "Milli Mallikas" - zwischen Wodka und Tequila schwimmt eine große Portion Tabasco, die Schlieren zieht. Ein höllisches Gemisch, bei dem man am besten mit Bier nachspült.

Dass Tallinn direkt an der Ostsee liegt, fällt dem Besucher kaum auf.

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Das hat einen einfachen Grund, wie Mikko Fritze erklärt: "In der Sowjetzeit war der Zugang ans Meer mehr oder weniger verboten, das war Hafen- oder Industriegebiet. Deswegen konnte sich keine Infrastruktur entwickeln, in der sich Menschen wohl fühlen - etwa als Passant oder Konsument in einem Café oder Restaurant."

Der Deutsche ist als Intendant für das Programm von "Tallinn 2011" verantwortlich und möchte im Rahmen der Europäischen Kulturhauptstadt "Geschichten von der Meeresküste" erzählen. In den kommenden Jahren soll an der Küste eine Promenade namens "Kulturkilometer" entstehen, die zum Flanieren einlädt. Wer heute schon in der Natur spazieren will, kann am Meer nach Pirita wandern - nach einer Stunde kommt man am Segelhafen an, wo während der Moskauer Olympischen Spiele 1980 die Segelwettbewerbe ausgetragen wurden. Zurück geht es mit dem Bus oder mit einem Taxi - die Preise sind moderat und die Fahrer fast immer ehrlich.

Idyllisch ist auch der Park des Kadriorg-Schlosses, das Zar Peter der Große bauen ließ. Nebenan lockt das futuristische Kumu mit seiner modernen Architektur und spannender Kunst - im Jahr 2008 wurde es als "Europas Museum des Jahres" ausgezeichnet.

Ein letzter Hinweis: Estland hat es dank eines Programms namens "Tigersprung" geschafft, bereits in den neunziger Jahren alle Schulen ans Internet anzuschließen und setzt seither auf moderne IT-Technik. Parktickets und Fahrscheine im Bus können per SMS bezahlt werden und die Esten dürfen sogar ihr Parlament von zu Hause aus wählen. Stolz wurde in der Vergangenheit damit geworben, dass jeder Besucher an jedem Punkt der Altstadt per Wifi im Internet surfen kann.

Doch eigentlich kennt jeder kluge Reisende heute die goldene Regel: Entspannen kann nur, wer das Notebook zu Hause lässt. Das gilt auch für Tallinn - die Altstadt will bestaunt und nicht als Kulisse für eine Internetrecherche benutzt werden.

Informationen über Tallinn gibt es unter www.tourism.tallinn.ee oder www.visitestonia.com/de. Seit Ende März fliegt Lufthansa täglich von München in die estnische Hauptstadt. Die Verbindung zwischen Frankfurt und Tallinn besteht seit längerem. Bei anderen Airlines wie Finnair oder Air Baltic ist ein Zwischenstopp in Helsinki beziehungsweise in Riga nötig.

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