Sextener Dolomiten:Tunnelblick zurück

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Der Paternkofel bietet alles, was Alpinisten anzieht: scharfe Konturen, interessante Routen, tolles Panorama. Trotzdem steht er im Schatten der Drei Zinnen. (Foto: Alpinschule Drei Zinnen - Sexten)

Beim Anblick der Drei Zinnen übersehen Wanderer gern den Paternkofel, den Gipfel daneben. Dabei hat der Berg eine bewegende Vergangenheit - und wäre außerdem leichter zu besteigen.

Von Helmut Luther

Auf der Terrasse vor der Dreizinnenhütte steht ein Fernrohr. Viele Tagesgäste deponieren hier, kaum haben sie die Hütte in einer Scharte auf 2438 Metern erreicht, eilig ihre Rücksäcke. Anschließend werfen sie einen Euro in den Münzschlitz ein und starren auf die Nordwände der Drei Zinnen, das millionenfach fotografierte Gipfelensemble. Selten kommt jemand auf die Idee, das Fernrohr ein wenig nach links zu schwenken.

Dort steht der Paternkofel, aufgefaltet wie ein Akkordeon. Mit seinen 2744 Metern ist er etwas niedriger als die Drei Zinnen. Verglichen mit seinen spektakulären Nachbarn wirkt er unscheinbar.

Für die Einheimischen aus Sexten hat er dennoch größte Bedeutung. "An den Drei Zinnen wurden wichtige Kapitel der Alpingeschichte geschrieben, aber der Paternkofel ist ein Schauplatz der Weltgeschichte", sagt Herbert Summerer. Der Bergführer und Leiter der Alpinschule Sexten, ein Hüne mit blondem Haarschopf und blauen Augen, hat ein Buch über die Erschließung der Sextener Dolomiten geschrieben.

Einer seiner Protagonisten ist Sepp Innerkofler, aus dessen insgesamt 60 Erstbegehungen vor allem die Neutour an der Kleinen-Zinne-Nordwand im Jahr 1890 aus den alpinen Chronologien herausragt. Gefallen ist der Bergführer aus Sexten im Ersten Weltkrieg allerdings am Paternkofel. Alpingeschichte hier, Weltgeschichte dort.

Innerkofler spielte aber auch bei der touristischen Entwicklung des Gebiets eine bedeutende Rolle und arbeitete unter anderem als Hüttenwirt auf der Dreizinnenhütte. "Mit dem damals auf einer Tour verdienten Geld konnte Innerkofler die beste Kuh kaufen", sagt Summerer. Er wisse das, weil er mütterlicherseits mit der Bergsteigerlegende verwandt sei. "Als Kind stellte ich immer die Lauscher auf, wenn die Erwachsenen von den Erstbesteigungen der Vorfahren erzählten."

Doch jetzt heißt es "Kopf einziehen!", um im Kriechgang den ersten Stollen am Bergfuß zu durchqueren. Der Bergführer hat Taschenlampen dabei; in dem Hunderte Meter langen, über steile Stufen aufwärts führenden Tunnel ist es komplett finster. Im Lichtschein plätschern Bächlein über Felsritzen herab. Das Wasser ist zu hören, denn außer dem Hallen der Bergstiefel auf dem harten Stein herrscht Stille. Man ist froh, nach einigen Minuten wieder draußen zu sein und nicht wie die Soldaten im Weltkrieg hier die Stellung halten zu müssen. Ringsum verlief über den Graten vor fast 100 Jahren die Front zwischen Österreich-Ungarn und Italien.

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Der Paternkofel lag in Schussweite von Sexten und besaß damit eine besondere strategische Bedeutung. In manchen Schotterrinnen liegen noch immer Reste von Drahtverhauen und Balken. Sie dienten einst zur Befestigung von Unterständen. Den Fels verwandelten die Soldaten mit Presslufthämmern und Sprengstoff in Bunker. In größeren Abständen wurden Fenster in die durchhöhlten Felsen geschlagen. Sie erlauben einen Blick auf die Drei Zinnen. Wie durch ein Fernrohr.

Es ist kein Wunder, dass der Paternkofel trotz seines einstigen Stellenwerts heute im Schatten des steinernen Triumvirats steht. "Für mich sind die Drei Zinnen die Bergikone schlechthin, weit schöner als das Matterhorn", sagt Summerer. Der Bergführer zeigt auf Kletterer, die sich im Schneckentempo über die 600 Meter hohen Felswände hinaufarbeiten. Seit fast 150 Jahren üben sie ihren Reiz auf Bergsteiger aus: Angefangen von der Erstbegehung der Großen Zinne im Jahr 1869 über deren direkte Nordwand-Durchsteigung 1958 bis zu den schwierigsten Sportkletterrouten der vergangenen Jahrzehnte wie die berühmte Free-Solo-Begehung der Brandler-Hasse-Direttissima durch Alexander Huber 2002. Jede Alpinisten-Generation suchte hier ihre Grenzen.

Der Laie kann angesichts all der Pionierleistungen schon einmal in Verwirrung geraten. Heuer werden beispielsweise gleich drei Jubiläen gefeiert: Die Durchsteigung der Große-Zinne-Westwand vor 100 Jahren durch Hans Dülfer; der Nordwand vor 80 Jahren durch Emilio Comici; und derselben Wand vor 50 Jahren - allerdings im Winter - vom Team des Sachsen Rainer Kauschke. Die Sachsen haben damals bis zum Gipfelsturm 17 Tage bei Temperaturen bis minus 30 Grad ausgeharrt. Kauschke gefiel es trotzdem so gut, dass er nicht in die DDR zurückkehrte. "Er bliebt als Tankstellenpächter in Toblach", sagt Summerer. Ihm fällt zu jedem Felsen in seinem Blickfeld eine Anekdote ein. "Dort an der Kante ging vor einigen Jahren einer Frau beim Abseilen das Seil aus", sagt er etwa. Die vom Aufstieg erschöpfte Bergsteigerin hätte noch 40 Minuten verzweifelt geschrien, "dann ließ sie sich fallen."

Legenden der Erstbesteigung

Summerer könnte auch all die Legenden erzählen, die sich um jene Erstbesteigung ranken, die Sepp Innerkofler 1890 zusammen mit einem Jäger an der Kleine Zinnen gelang. Er hat eine Kopie von Innerkoflers Kriegstagebuch dabei. Der Bergführer war damals schon fast 50 Jahre alt und gehörte zu einer Bergführergruppe der Standschützen, mehr oder weniger wehrfähige Männer, welche die Südgrenze verteidigen sollten, während die Hauptarmee an der Front im Osten kämpfte. Das Tagebuch endet am 3. Juli 1915, dem Tag vor Innerkoflers Tod, mit dem lakonischen Eintrag: "Wecken um sechs Uhr früh, dann nach einer Tasse schwarzen Kaffees Aufbruch zum Drei-Zinnen-Hochplateau." Der wichtige Paternkofel musste erstürmt werden.

Nach der Tunneldurchquerung beginnt die eigentliche Kletterei. Am Drahtseil des Innerkofler-De-Luca-Klettersteigs hangelt man sich über eine graue, abgewetzte Felsrippe in Richtung Gamsscharte hinauf und hat dort Zeit genug, über die feine Ironie zu sinnieren, dass Innerkofler und De Luca nun in einem Atemzug genannt werden. Denn De Luca, der zweite Namenspatron des Klettersteiges, war jener Alpini-Soldat, der Innerkofler möglicherweise im Kampf getötet hat. "Dort stieg Innerkofler am 4. Juli 1915 in die Westwand ein", sagt Herbert Summerer und zeigt auf eine von Schrofen durchsetzte Rinne weiter westlich des heutigen Klettersteiges. "Er sollte mit einigen Gefährten den von De Luca und einer Handvoll Italiener besetzten Gipfel erobern."

Der Angriff schlug fehl, Innerkofler stürzte wenige Meter unter dem Gipfel tödlich ab. Warum, ließ sich nie wirklich klären. Einer Lesart zufolge soll De Luca Innerkofler durch einen Steinwurf am Kopf verwundet haben. Andere Quellen berichten, dass Innerkofler vom Sperrfeuer der eigenen Leute getroffen wurde.

Heute ist ein Gang zum Gipfel weit einfacher, denn technisch ist der Klettersteig als unschwierig eingestuft. Hat man einen bauchigen Riss über der Gamsscharte überwunden, ist es nicht mehr weit bis nach oben. Mit jedem Schritt wird das Gelände übersichtlicher, bald zeichnen sich im Süden wieder die Kolossalskulpturen der Drei Zinnen ab. "Sie stehlen dem Paternkofel die Schau", sagt Herbert Summerer. Dabei bietet der Paternkofel alles, was Alpinisten anzieht: scharfe Konturen, interessante Kletterrouten, ein großartiges Panorama.

(Foto: SZ Grafik)

Letzteres offenbart sich vor allem am wohnzimmerkleinen Gipfel, wo noch einige Überreste der Alpini-Stellung aus dem Ersten Weltkrieg erhalten sind. Auch ein neues Gipfelkreuz erinnert an diese Zeit. Gewidmet hat es die Sextener Schützenkompanie Sepp Innerkofler. Das Grauen jener Zeit hat sich hier zum Mythos verdichtet.

Informationen

Anreise: Mit dem Auto über die Brennerautobahn bis zur Ausfahrt Brixen. Dann über die Staatsstraße nach Toblach und weiter nach Misurina. Mautpflichtige Straße bis zur Auronzohütte. Von dort sind es etwa 1,5 Gehstunden zur Dreizinnenhütte.

Unterkunft: Dreizinnenhütte, Milka & Hugo Reider, Übernachtung für Alpenvereinsmitglieder ab 10 Euro, für Nichtmitglieder ab 20 Euro. Reservierung wird empfohlen, geöffnet bis 29. September. Tel.: 0039/0474/972002, www.dreizinnenhuette.com

Paternkofel-Tour: Von der Auronzohütte etwa eine Stunde, von der Dreizinnenhütte in wenigen Minuten zu den Stollen ins Berginnere. Der mit Drahtseilen gesicherte Klettersteig ist technisch einfach (B). Klettersteigset, Helm und Stirnlampe sind hilfreich.

© SZ vom 12.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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