Es muss ein Spektakel gewesen sein, in den Jahren um 1800 einfach nur an der Kaimauer zu sitzen und den reichen Passagieren beim Verlassen ihrer Ozeandampfer zuzusehen. Wie sie über die Reling kletterten, um sich auf dem Rücken von örtlichen Trägern durch den Schlick der Ebbe an Land schleppen zu lassen. Oder wie sie sich bei Flut mit unsicheren Füßen in bedrohlich schaukelnde Ruderboote tasteten, um schließlich samt Gepäck an Englands Sandstrände gespült zu werden. An Land wurde ob der Darbietungen gelacht und gefeixt, und wenn ein Träger stolperte und eine Lady ins seichte Wasser plumpste oder gar ein Boot kenterte und betuchte Herrschaften ans Ufer schwimmen mussten, da erreichte die Stimmung der Zuschauer ihren Höhepunkt.
So kam es, dass vor 199 Jahren, im Juli 1812, das Parlament zu London ein Gesetz zum Bau sogenannter Piers verabschiedete, dessen Folgen wenig später unter der Regentschaft Königin Victorias weit über Großbritannien hinaus zu bewundern waren. Wo immer der Gezeitenwandel zu groß war oder die Bucht zu flach, wo immer die Dampfer schneller wuchsen, als man Hafenbecken vertiefen konnte, ragten hölzerne Seebrücken ins Meer hinaus, filigrane Stege auf Stelzen, die bei Nebel im Meer zu verschwinden schienen. Die Pier in Southend-on-Sea, östlich von London im seichten Mündungsgebiet der Themse gelegen, erreichte 1846 die bis heute unübertroffene Länge von 2,2 Kilometern. Zu ihrer Blütezeit zählten England und Wales 97 Piers.
Für wenig Geld verscherbelt, von Stürmen demoliert
Zur Blütezeit. Denn mit dem Niedergang der Seefahrt begann es im ganzen Land, morsch zu werden und zu rosten. Wo sich keine Investoren fanden, wurden Piers gesperrt oder abgetragen, zuweilen beschleunigte ein Feuer den Prozess. Tim Phillips war Architektur-Student, als er 1972 die Übungsaufgabe erhielt, einen Rettungsplan für die verwahrloste West Pier von Brighton zu entwickeln. Der einfache Vorschlag des heute 64-Jährigen: "Man muss Profit machen, um eine Pier zu erhalten." Doch das Casino, das im Mittelpunkt seiner Pläne stand, wurde nie gebaut. Stattdessen wurde die Pier für 100 Pfund verscherbelt, von Stürmen demoliert, geschlossen, teilweise renoviert und für organisierte Besichtigungen freigegeben, wieder vom Sturm beschädigt und schließlich von einem Feuer zerstört.
Seit 2006 wartet die Ruine auf den beschlossenen Neubau samt 150 Meter hoher Aussichtsplattform. Immerhin, einen coolen Namen hat die Plattform schon: "Brighton i360".
Niemand, der sehnlicher darauf warten würde als Tim Phillips. Denn der ist inzwischen Chef der National Pier Society (NPS), die sich kurz nach seinen revolutionären, studentischen Ideen gebildet hatte. "Die siebziger Jahre waren schrecklich", sagt Phillips und wundert sich, dass es noch immer Seebäder in England gebe, bei denen den Politikern nicht klar sei, wie sehr der Tourismus von diesen "wunderbaren Gebilden" profitieren könne.
Urlaub in Großbritannien:Seebad Brighton
An der Südküste Englands gelegen, profitiert Brighton vom milden Klima und dem kilometerlangen Kieselstrand.
Sein Lieblingsbeispiel wurde von der NPS soeben zur "Pier of the Year" gekürt. Um es zu besuchen, muss Phillips nur ein paar Kilometer aus dem heimischen Devon nach Norden reisen, nach Weston-super-Mare, südlich der Stadt Bristol.
Der Herr der "Pier of the Year" heißt Kerry Michael. Ein kleiner Mann mit ungeheurer Kraft in den Augen und wohl auch in den Armen. Ein Mann, dessen Sätze wie Gesetze klingen, und der heute, nachdem er mehr als 60 Millionen Euro in die Grand Pier von Weston-super-Mare investiert hat, das attraktivste Büro der ganzen Stadt sein Eigen nennt.
Verbrannte Erinnerungen an eine glorreiche Epoche
Ganz oben in einem der stilisierten, schneeweißen Türmchen blickt der 51-Jährige 400 Meter weit hinüber auf den Sandstrand, auf ein ebenso schneeweißes Riesenrad und auf seine Stadt. "Die Pier wurde mir einfach zum Kauf angeboten", erzählt Michael, der bis dahin vor allem mit Versicherungen viel Geld verdient hatte, "und ich sagte nein." Doch dann habe er sich dabei ertappt, wie er auf seinem Weg ins Büro plötzlich immer am Strand entlang gelaufen sei, bis es ihm dämmerte: "Diese Chance bekommst du nie wieder."
Die Chance als Albtraum. Der Kaufvertrag lag gerade erst im Tresor, da brach am 28. Juli 2008 ein Feuer aus, das weltweit in die Nachrichtensendungen gelangte. Ein Stück Geschichte verbrannte da, nicht nur der Stadt Weston-super-Mare. Es verbrannte die Erinnerung an die glorifizierte Epoche Königin Victorias, unter deren Regentschaft sich die Piers vom bloßen Schiffsanleger zu Freizeitparadiesen für die Aristokratie gewandelt hatten. Auf den längeren Piers wurden Pavillons für die kurze Rast errichtet, Pferdekutschen und später elektrische Trams brachten die Tagesgäste hinaus ans Ende der Landestege, wo sie Ballsäle und Teehäuser erwarteten. Auch die aufkeimende Badekultur erlebte durch die Piers einen Schub: Hier konnte man aus Kabinen heraus unbeobachtet ins heilsame Salzwasser steigen.
An jenem 28. Juli 2008 saßen die Menschen mit von Schreck erfüllten Augen am Strand, viele weinten, und alle, auch Kerry Michael, konnten nichts anderes tun als abzuwarten, bis sich die Flammen endlich gelegt hatten. Michael hat einen Bildband herausgegeben, in dem eine Luftaufnahme zeigt, wie 700 Tonnen glühender Stahl auf einer absurd großen Plattform im Meer liegen.
Ein paar Seiten später zeigt ein anderes Foto eine Menschenschlange im Regen, die auf Einlass auf die neu errichtete Pier wartet, es war der 23. Oktober 2010. Als sie eingelassen wurden unter süßlichen Melodien, erlebten sie die erste Pier, die ganz nach dem Geschmack des einstigen Architekturstudenten Tim Phillips errichtet war: 28 Snack-Bars und Restaurants, 500 Game-Maschinen, ein Formel-1-Simulator, eine Go-Kart-Bahn, ein Laser-Labyrinth. In zehn Jahren will Michael Gewinn machen und Phillips ist sich sicher: "Der schafft das."
Gegenentwurf in Clevedon
Während die Grand Pier allein im April eine halbe Million Besucher zählte, ist Linda Strong (55) im wenige Kilometer nördlich liegenden Städtchen Clevedon schon mit 100.000 pro Jahr zufrieden.
Ihre Clevedon Pier ist wie ein Gegenentwurf zum Oktoberfest auf Stelzen, zum blinkenden Spektakel, das Kerry Michael inszeniert. Clevedon Pier versucht es mit einer Reise in die Vergangenheit: Ein Dutzend Fischer kauern neben ihren Angeln, am Pier-Ende trinken zwei Damen Tee und schauen Lachmöwen bei ihren Flugmanövern zu. Alle paar Wochen legt die Waverley an, ein Schaufelraddampfer auf historischer Kreuzfahrt entlang Englands Südwestküste.
Weil der Denkmalschutz ihre Pier als einzige in England unter strenge Auflagen stellt, muss Linda Strong zwei Euro Eintritt für den 257 Meter langen Spaziergang in die Stille der weiten Mündungsbucht des River Severn verlangen. Sie erhält die Pier mit Hilfe einer gemeinnützigen Organisation und einer Heerschar ehrenamtlicher Helfer, und doch muss sie ständig Geld sammeln, allein die Versicherung kostet 40.000 Euro pro Jahr, die ständig erforderlichen Reparaturen kosten ein Vielfaches.
Strong will ein Besucherzentrum bauen, sie sagt, sie suche reiche Menschen, die wie sie die Pier im Blut hätten. Sie spricht über ihre Pier wie über eine Geliebte: "Schauen Sie sich nur ihre hübschen, schlanken Beine an!"
Premiere auf der Isle of Wight
Zurück ins Jahr 1812, ins Parlament von London, wo alles begann. Kaum war das Gesetz verabschiedet, bauten sie die erste Pier, dort, wo sie sie am dringendsten benötigten: auf der Isle of Wight. Schon damals stark vom Tourismus abhängig, konnten es die Hoteliers nicht mehr ertragen, dass ihre Gäste zum Gespött der Schaulustigen wurden. 1814 verband die erste Seebrücke der Welt die Ankerstelle der Dampfer mit dem Städtchen Ryde. Später wurden zwei Londoner U-Bahn-Waggons auf Gleise gesetzt, die auf einem zweiten Steg das Festland und die Wartehalle am Pier-Ende verbinden. Sie fahren noch heute, die Waggons, und noch heute steigen die Passagiere der Fährgesellschaft Wightlink dort aus und ein. Nebenan dröhnen die letzten Hovercrafts, die Pier von Ryde wird auch sie überleben, solange kein Wahnsinniger einen Flughafen baut oder die sechs Kilometer hinüber nach Portsmouth mit einer Brücke überspannt.
Soeben wurde die Pier für sechs Millionen Euro restauriert, die gusseisernen Geländer glänzen wie neu, ebenso die Pavillons. Manche der alten Pfeiler aus Tropenholz mussten aus dem Schlick gezogen und durch neue ersetzt werden. Doch weggeworfen wurden sie nicht. In Rydes Union Street gibt es ein kleines Atelier, dort sind Bilderrahmen und Skulpturen ausgestellt, die ein örtlicher Künstler aus den Pfeilern geschnitzt hat. Er sagt: "Vor allem die Einheimischen kaufen sie. Sie haben doch ein sehr emotionales Verhältnis zu ihrer Pier."
Informationen:
Anreise: Da die meisten Piers im Süden Englands liegen, empfiehlt sich eine Anreise über London. Zum Beispiel mit dem Mietwagen: Sunny Cars, www.sunnycars.de. Ryde auf der Isle of Wight ist über die M3 und die M27 zu erreichen, Preise und Buchungen über www.wightlink.co.uk. Weston-super-Mare und Clevedon sind in zwei Stunden über die M4 und die M5 zu erreichen. Der Eintritt auf die Grand Pier ist frei, Clevedon Pier verlangt zwei Euro für Erwachsene und einen Euro für Rentner und Kinder.
Unterkunft: In Ryde hat man aus dem 200 Jahre alten Hotel Yelf's von den Zimmern 25, 26, 27, 28 einen Blick über die Pier, DZ/F ab 90 Euro, www.yelfshotel.com. In Weston-super-Mare bietet Smith's Hotel von den Balkonzimmern 9, 10, 11 und 26, 27, 29 einen feinen Blick auf die Pier. DZ/F ab 90 Euro, www.smithshotel.uk.com.