Piers in Großbritannien:Brücken in die Vergangenheit

Sie sind für die Briten eine Institution wie "Fish&Chips" und der Pub. Doch die historischen Piers verfallen aus Geldmangel oder brennen ab.

Wolfgang Koydl

Sie sind so britisch wie Fish and Chips, Tee mit Milch oder Charles und Camilla, und man findet sie verstreut rings um das Vereinigte Königreich an allen Küsten. Mancher hat sich sogar dazu verstiegen, sie mit einem kräftigen Schuss Selbstironie als "reine Essenz der Britishness" zu bezeichnen, weil sie zwar prachtvoll aussähen, aber eigentlich keinen rechten Zweck verfolgten.

Die Rede ist von den Vergnügungspiers, ohne die kein britischer Badeort vollkommen wäre. Ob in Brighton oder Blackpool, in Llandudno oder Southend ragen sie oft mehrere hundert Meter weit in die Gewässer, welche die britischen Inseln umspülen.

Auf ihren hölzernen Rücken tragen die meist mehr als hundert Jahre alten Stahlkonstruktionen ganze Städte mit Rummelplätzen, Varieté-Theatern, Restaurants und Hunderten verschlissenen Liegestühlen. Für einen Briten wäre ein Ausflug an die Küste nicht komplett ohne einen Bummel auf dem Pier.

"Sie fassen kompakt alles zusammen, was man braucht", lobte Stuart Barrow von der National Piers Society, "health, happiness and horseplay" - zu deutsch: Gesundheit, Spaß, und die Möglichkeit, im übertragenen Sinn ganz einfach mal die Hosen herunterzulassen.

Doch so wie andere britische Institutionen - das Pub, der Doppeldeckerbus, Charles und Camilla - ist auch der Pier vom Untergang bedroht. Diese Woche erst wurde der historische Fleetwood Pier an der Irischen See bei Blackpool ein Raub der Flammen. Ende Juli brannte der 104 Meter lange Pier in Weston-super-Mare in der südwestenglischen Grafschaft Somerset vollständig ab. Wenn es kein Feuer ist, das die Seebrücken zerstört, dann sind es Rostfraß, verheerende Herbst- und Winterstürme oder ganz einfach Vernachlässigung aus Geldmangel.

Insgesamt 55 Vergnügungspiers gibt es noch in Großbritannien: vom kürzesten mit 100 Metern Länge in Cleethorpes in der Grafschaft Lincolnshire bis zum längsten in Southend, wo man mit einer Schmalspurbahn die mehr als zwei Kilometer vom Strand bis zum Pierkopf weit draußen in der Themsemündung zurücklegt.

Ein Blick in die Historie auf der nächsten Seite: die Piers als Vergnügungsparks für die bessere Gesellschaft.

Brücken in die Vergangenheit

Der Deal Pier in Kent wurde als letzte britische Seebrücke erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts errichtet, in Ryde auf der Isle of Wight steht noch immer der älteste Pier des Landes, der bereits 1814 gebaut worden ist.

Ryde Pier, wo Fähren aus Portsmouth anlegen, erfüllt übrigens auch noch die ursprüngliche Aufgabe aller Piers: Sie waren Landungsbrücken für Schiffe, die in den seichten Gewässern entlang der Küste nicht vor Anker gehen konnten.

Häfen gab es keine in jenen Küstendörfern, die plötzlich schick und modern geworden waren, seitdem König Georg IV. zum Ausklang des 18. Jahrhunderts die frische Seeluft als gesundheitsfördernd entdeckt hatte. Auch die Straßenverbindungen zwischen London und der Seaside ließen zu wünschen übrig, so dass man die neuen Kurorte zunächst nur von der See aus ansteuern konnte.

Amüsement für das wohlhabende Bürgertum

Doch als zunehmend das wohlhabende Bürgertum die Freuden eines Urlaubs an der See zu entdecken begann, wandelten sich die Landungsbrücken zu veritablen Vergnügungszentren: Konzertsäle und orientalische Pavillons, Restaurants und Theater lockten das betuchte Publikum.

Und Geld musste man schon haben für eine Promenade auf dem Pier: Sixpence Eintritt verlangte der 1866 eröffnete West Pier in Brighton - nach heutigem Geld mehr als 20 Pfund Sterling (25 Euro).

Die sogenannten besseren Stände wollten unter sich bleiben, und es war gehobene Kultur, die auf den Piers geboten wurde: Der Komponist Edward Elgar dirigierte eigene Werke auf dem Palace Pier von Brighton, Spitzenschauspieler aus dem Londoner West End gastierten in den Sommermonaten auf Bühnen, die mehrere Meter über der See errichtet worden waren.

Langfristig allerdings ließ sich die Arbeiterklasse nicht von den Badeorten und den Piers fernhalten. Als die Werktätigen aus den industriellen Ballungszentren von Manchester, Birmingham und Sheffield anfingen, ihre Sonntage und die 1871 vom Unterhaus gebilligten neuen Bank Holidays an der Seaside zu verbringen, stellten sich auch die Piers recht schnell auf die neue Kundschaft ein.

Wie sich die Piers ein neues Image zulegen wollen - auf der nächsten Seite.

Brücken in die Vergangenheit

In sogenannten Penny Arcades konnten die Besucher an Spielautomaten ihr Glück versuchen, Wahrsagerinnen zogen mit ihren Karren auf die Brücken hinaus, und die sogenannte Camera obscura mit dem vielversprechenden Titel "What the butler saw" versprach erotischen Kitzel mit verstohlenen Blicken hinter die vermeintlich hochanständige Fassade der gehobenen Stände.

Allmählich erwarben die Piers ihren Ruf als Orte, an denen man bürgerliche Zwänge abstreifen konnte. Es bedarf nur eines kleinen Maßes an Küchenpsychologie, um den tieferen Sinn der Piers zu erkennen: phallische Konstruktionen, die in das unbeherrschbare Element der See hineinragen.

Billige Flugreisen zu sonnigen Ferienzielen im Süden freilich führten zum Verfall vieler Piers. Sie galten nun als schmuddelig und wohl auch ein wenig anrüchig.

Neue Konzepte für alte Piers

Erst in den vergangenen Jahren wurde das Interesse an ihnen wieder wach, gepaart mit Ideen, wie man sie modernen Bedürfnissen anpassen könnte. Southwolds Pier in Suffolk beispielsweise brüstet sich mit schicken Boutiquen und Restaurants, auf der Meeresbrücke in Colwyn Bay in Nord-Wales hat eine Gemäldegalerie eröffnet.

Bemerkenswerte Pläne hatte auch der Varieté-Komiker Mike Simmons, der neue Besitzer des nun zerstörten Piers in Fleetwood: Er wollte 85 Apartments darauf errichten, der Pierkopf sollte zu einem Garten umgewandelt werden. Das Projekt stieß bei den Einwohnern jedoch auf massiven Widerstand, die Polizei vermutet daher, dass Brandstifter das Feuer legten.

Ohnehin war unklar, wie Unternehmer Simmons diese Wohnungen hätte isolieren wollen. Denn im Winter kann es ganz schön zugig werden draußen auf den Piers.

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