Gletscherskigebiete in der Pandemie:Überrascht vom Ansturm

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Alle wollten auf den Gletscher: Riesenschlange mit Gedränge am 10. Oktober im Stubaital. (Foto: ORF)

In Tiroler Gletscherskigebieten nahm man die Abstandsregeln zuletzt offenbar nicht so ernst - Kommentare gingen von "Corona-Roulette" bis "Skandal" oder "idiotisch". Nun wurde nachgebessert.

Von Dominik Prantl

Das überrascht dann jetzt, ehrlich gesagt, doch. Sonntag, 8.50 Uhr, Talstation Stubaier Gletscher, keine Wolke am Himmel, bestes Herbstskiwetter also. Zwei Polizeiwagen parken nicht weit entfernt von den Kassen, an denen vereinzelte Wintersportler ihre Tickets kaufen. Pärchen und kleinere Gruppen von Skifahrern legen erst einmal etliche Meter zwischen Absperrgittern zurück, ehe sie sich mit deutlichem Abstand einreihen. Gut, die Gondeln wirken vielleicht etwas voll, aber: Wo sind die Menschenmassen?

In den Wochen zuvor hatte der Skitourismus noch ganz andere Bilder geliefert. Über diverse Kanäle wurden Fotos von Skifahrern in mehreren Gletscherskigebieten Tirols verbreitet, die offensichtlich wenig vom Abstandhalten hielten. Auf den Bildern sind Menschenansammlungen vor den Gondeln und an Bushaltestellen zu sehen. Auf den zweiten Blick lassen sich zum Teil Gesichter ohne Maske erkennen. Vom Hintertuxer Gletscher kursiert seit einiger Zeit zudem ein Video, auf dem sich die Skifahrer am Eingang zur Talstation dicht an dicht fortbewegen. In Covid-Zeiten wirken die Aufnahmen geradezu gruselig.

Der Sturm der Entrüstung ließ nicht lange auf sich warten. In den sozialen Medien herrschte eine bemerkenswerte Harmonie bei der Beurteilung des Verhaltens, das wahlweise als "Corona-Roulette", "Skandal" oder "idiotisch" gebrandmarkt wurde, gerne gepaart mit dem Hinweis auf den seit März mit verantwortungslosem Virusvertrieb assoziierten Wintersportort Ischgl. Ähnlich einstimmig urteilte der Rest der Medien über das "Ski-Chaos", wobei der ORF die Aufregung zu einer psychologischen Abhandlung darüber nutzte, warum die Masse zürnt, wenn sich eine ausscherende Minderheit zusammenballt.

Der Standard zitierte eine Wiener Hygienikerin, die derartige Menschenansammlungen als "große Katastrophe" bezeichnete, gerade auch deshalb, weil wegen der Skihelme lauter gesprochen werde - mit entsprechendem Tröpfchenflug. Auf Twitter, dem Epizentrum der Bilderflut, fragte einer: "Nur wer ist verblödeter? Die Liftbetreiber oder die Touristen, die sich dicht aneinander kuscheln?" Ein anderer Beitrag fasste die Fassungslosigkeit zusammen: "Geht's noch Leute?"

Lässt man den Drängeltrieb der Skifahrer und deren wundersame charakterliche Transformation beim Anblick von Schnee einmal beiseite, verrät so manche Reaktion der Bergbahnbetreiber womöglich mehr über deren Herangehensweise, als es die entblößende Kraft der Bilder tut. Denn obwohl die Wintertourismusindustrie gerne darauf verweist, dass für sie die gleichen Regeln wie für die öffentlichen Verkehrsmittel gelten und sie das Menschenmögliche für sicheres Skifahren tue, erweckte sie bis vor Kurzem mitunter den Eindruck, sie veranstalte eine Privatparty.

So heißt es von mehreren Seiten, unter anderem vom Obmann des Fachverbandes der Seilbahnen, Franz Hörl, einige Gebiete seien vom gewaltigen Andrang überrascht worden. Allerdings liegen die Besucherzahlen weit unter den Werten des Vorjahres - vor allem auch deshalb, weil die Gäste aus Deutschland fehlen, das fast ganz Österreich mittlerweile zum Risikogebiet erklärt hat. Am Stubaier Gletscher etwa sind an einem guten Herbsttag vor Corona rund 8000 bis 9000 Skifahrer ins Skigebiet aufgefahren.

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"Am vergangenen Sonntag waren es etwa 6000", sagt Andreas Kleinlercher, Seilbahndirektor am Stubaier Gletscher. So muss es bislang wohl eher als ein Segen gelten, dass Skifahrer aus dem Nachbarland trotz 48-Stunden-Ausnahmeregelung ausreichend Respekt vor dem Risikogebiet zeigen. Dabei wurden die Covid-Konzepte, für die sich die Liftgemeinschaft gerne rühmt, bereits vor der Verschärfung der Krise erstellt. Für einen normalen Skitag sind sie gerade an den Zubringerbahnen, die besonders in hoch gelegenen Skigebieten den Flaschenhals bedeuten, offenbar nur bedingt geeignet. Oder anders: Was, wenn die Massen wirklich kommen?

Auch die schöne Idee von der sogenannten Eigenverantwortung, ein mantramäßig genannter Grundsatz im Schutzmaßnahmenkatalog der Bergbahnen, greift offensichtlich nur dann, wenn genügend Sicherheitspersonal über die Einhaltung der Eigenverantwortung wacht. Andererseits räumen die meisten Liftbetreiber ein, dass man sich noch immer in einem Prozess befinde. "Wir waren der Überzeugung, dass die Maßnahmen passen, lernen aber jeden Tag dazu", sagt etwa Daniel Frizzi, Marketingleiter und Covid-Beauftragter am Kaunertaler Gletscher. Er weist allerdings darauf hin, dass auf dem zuletzt veröffentlichten Bild aus seinem Skigebiet weder die geöffneten Türen zum Lüften zu sehen sind noch, dass sogar weniger Leute im Gebäude waren als zugelassen.

Auch Ines Eberl-Kammerlander, Marketingleiterin der Hintertuxer Gletscherbahnen sagt: "Wir reagieren jeden Tag." Das an der dortigen Talstation entstandene Video sei allerdings eine "Momentaufnahme", so Eberl-Kammerlander, außerdem so gefilmt, dass man die Masken nicht erkennen könne, und zwar in den frühen Morgenstunden, als nahezu ausschließlich Trainingsteams auf die erste Gondel um 8.15 Uhr auf dem Vorplatz warteten. Der normale touristische Betrieb sei hingegen nicht das Problem. Inzwischen wurde auf Wintermodus umgestellt und die erste Gondelfahrt auf 7.30 Uhr vorverlegt.

Mag man Bergtouristen, die sich zwar selbst in die Schlange einreihen, deren anprangernde Bilder später aber - teilweise über Umwege - an die Öffentlichkeit gelangen, generell eher schwierig finden, zeigt der Fall doch noch eines: Die sozialen Medien scheinen hier anders als sonst im Tourismus nicht nur als Frustkanalisation und Hotspot-Vermarkter zu funktionieren, sondern tatsächlich auch als Korrektiv. Wer sich in den Morgenstunden des eingangs erwähnten Superskisonntags der Talstation des Stubaier Gletschers zu einer Ortsbesichtigung näherte, stand auf der Zufahrtsstraße erst einmal im Stau; bis zu sechs Kilometer lang, mit verhältnismäßig wenigen deutschen Kennzeichen. Trotzdem ging teilweise gar nichts mehr.

Die Verantwortlichen haben reagiert, Ende Oktober sah das Anstehen bei der Stubaier Gletscherbahn zivilisierter aus. (Foto: Dominik Prantl)

"Wir haben nachgeschärft", sagt Andreas Kleinlercher, der Stubaier Seilbahndirektor. Bei der Security habe man aufgestockt, auch sind jetzt mehr Polizisten präsent. Zudem wurde das System der Anstellreihen "modifiziert", so Kleinlercher, wobei die Absperrgitter einen großen Teil des Vorplatzes an den Kassen einnehmen. Vor allem aber meint er mit "Nachschärfen" die Dosier-Ampel an der Einfahrt zur letzten Galerie vor dem Großraumparkplatz des Skigebietes. Auch dort stehen zwei Polizeiautos, die Intervallschaltung der Ampel hängt von der Parkplatzbelegung ab, am Sonntag folgte auf eine vierminütige Rot- ein dreiminütige Grünphase. Die zuletzt gerne publizierte Menschenschlange von der Talstation wird damit als stockende Kolonne auf die Straße verlegt. Das mag ökologisch vielleicht fragwürdig sein. Aber wahrscheinlich ist das ein Problem für eine andere Zeit.

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© SZ vom 29.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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