Ötztaler Radmarathon:Lass diesen Traum ein Ende finden!

Lesezeit: 6 Min.

238 Kilometer, 5500 Höhenmeter: Der Ötztaler Radmarathon ist die reine Quälerei im Hochgebirge - und legendär unter Hobbysportlern. Ein Selbstversuch.

Von Sebastian Herrmann

Vom Fuße des Timmelsjochs zieht eine Geisterprozession in die Höhe. Neben der Straße sitzen Menschen mit leerem Blick, manche haben sich flach auf den Boden gelegt, die Augen geschlossen, reglos. An ihnen vorbei quälen sich die anderen, die noch im Sattel sitzen und in die Pedale treten können. Nach gut 180 Kilometern und etwa 4000 Höhenmetern in den Beinen beginnt hier im Passeiertal in Südtirol der Schlussakt des Ötztaler Radmarathons. Jener Schlussakt, der diese Hochgebirgsquälerei zur Legende unter Hobbyradsportlern macht: die Auffahrt zum 2509 Meter hohen Timmelsjoch, der höchste Pass der Runde, der längste Anstieg des Tages und der letzte Nagel im ohnehin schon ziemlich platten Reifen.

In der Morgensonne am Kühtai kurbeln die Radler die ersten 1000 Höhenmeter empor. (Foto: Ötztal Tourismus)

Alle Gespräche vor dem Ötzi, wie die meisten das Rennen nennen, drehen sich um das Timmelsjoch, darum, dass der dickste Brocken der Runde ganz am Schluss kommt. "Ausgeträumt?" steht auf einem Transparent, das die Veranstalter dort in einer Serpentine aufgehängt haben. Vielen Dank auch, ihr Zyniker! Ausgeträumt? Nein, der Traum lebt, doch er besteht nur noch aus einem Gedanken: Lass dies ein Ende finden. Immerhin, es handelt sich um einen Kollektivschmerz. Die anderen Radler in salzverkrusteten Trikots wirken auch nicht so, als befänden sie sich auf einer Genusstour. Im Gegenteil.

Willkommen beim Ötztaler Radmarathon, dem Amateur-Rennen, bei dem so viele dabei sein wollen, dass von gut 18 000 Angemeldeten nur etwa 4700 Radler einen Startplatz bekommen. Der Ötzi stellt so etwas wie den Goldstandard unter Hobbyradsportlern dar. Es ist der Höhepunkt der Radsaison oder gar der einer Rennradler-Biografie. Die Strecke beginnt und endet in Sölden im Ötztal, ist 238 Kilometer lang und überwindet 5500 Höhenmeter. Auf dem Weg liegen das Kühtai auf 2020 Metern, der Brenner auf 1377 Metern, der Jaufenpass mit 2090 Metern und am Ende das teuflische Timmelsjoch. Wer das durchsteht, zählt zu einer inoffiziellen Gemeinde der Geweihten. "Das ist der Ritterschlag für jeden Hobby-Radsportler, das durchzufahren", sagt der österreichische Ex-Profi Thomas Rohregger, der das Rennen in diesem Jahr als Experte kommentiert. Es handelt sich um einen Ritterschlag, in der Tat - um einen sehr festen, in etwa in die Magengegend.

Zum 36. Mal wurde das Ötztaler Rennen am vergangenen Sonntag ausgetragen. Radfahrer aus Österreich, Deutschland, Italien, Belgien, den Niederlanden und 29 weiteren Nationen waren am Start. Der Nimbus des Ötzis speist sich aus der fordernden Strecke und auch daraus, dass es so viel Glück braucht, um einen Startplatz zu bekommen. Den ganzen Februar über läuft die Anmeldung, dann wird gelost. Hotels im Ötztal verkaufen Trainingswochen, zu denen - Eins-a-Verkaufsargument - ein garantierter Startplatz zählt. Wer auf jeden Fall dabei sein will, der bucht direkt nach seinem Zieleinlauf: "Sichern Sie sich jetzt Ihren Startplatz für 2017", steht auf Werbetafeln, die in Sölden aufgestellt sind. Im Sommer lebt das ganze Tal von dem Rennen, etwa vier Millionen Euro Wertschöpfung und 25 000 zusätzliche Übernachtungen ergeben sich aus der Veranstaltung.

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(Foto: Ötztal Tourismus/Jürgen Skarwan)

Hohes Tempo: Die Radfahrer überqueren die Ötztaler Ache.

Vorsicht: Immer wieder stehen Kühe auf und an der Strecke herum.

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(Foto: Ötztaler Radmarathon/Lorenzi)

Steile Kehren: Die Strecke führt am Ende des Ötztals über die Timmelsjoch-Hochalpenstraße.

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(Foto: Ötztaler Radmarathon/Lukas Ennemoser)

So viele wollen beim Rennen dabei sein, dass von gut 18000 Angemeldeten nur etwa 4700 Radler einen Startplatz bekommen.

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(Foto: Ötztal Tourismus/Jürgen Skarwan)

Die Strecke ist großartig, die Landschaft berauschend. Doch die Frage bleibt: Warum tut man sich das an.

Der Bestattungsunternehmer Rudy aus Belgien, um die 50 Jahre alt, dröhnende Lache, immer einen Spruch parat und immer Durst auf ein Bier, hat bereits mehrmals das Paket mit Startplatzgarantie gebucht. Zur Trainingswoche im Juli ist Rudy, man duzt sich unter Radlern, wieder ins Hotel Bergland nach Sölden gekommen. Nur mitfahren wird er diesmal nicht. "Der Arzt hat es mir verboten", sagt er. Zu viele Bestattungen, zu wenig Training, angereist ist er dennoch. Sein Kumpel Frank Martens, Jahrgang 1966, Schreiner aus der Nähe von Antwerpen, wird fahren. Der verschmitzt-goofyhafte Schlacks fährt erst seine zweite Saison Rennrad - und steht schon seinen zweiten Ötzi durch. "Er ist ein Beißer", sagt Urban Gstrein, der im Ötztal eine Bikeschule betreibt und mit Geisterprozessions-Anwärtern wie Frank, Rudy und anderen an den Tiroler Anstiegen trainiert.

Ein Summen Tausender teurer Rennräder hebt an. Der Schwarm bricht auf

Vorglühen für die ganz großen Schmerzen im Spätsommer - auf diese Weise formuliert, klingt es fast absurd, dass sich das an Touristen verkaufen lässt. "Die meisten sind Männer über 40", sagt Urban, "die Kinder sind aus dem Gröbsten raus, im Beruf sind die Weichen gestellt, und jetzt wollen sie es sich noch mal beweisen." Auch die Zahlen decken das Klischee von den alternden Männern in Funktionswäsche: Von 4700 Teilnehmern sind nur 280 Frauen, und mehr als ein Drittel der Starter sind zwischen 40 und 49 Jahre alt. Der Älteste ist Furio Camillo Isolani, 74, aus Italien.

SZ-Karte (Foto: sz grafik)

Und die Alten sind stark. Am Timmelsjoch zieht ein grauhaariger Radler jenseits der 60 an einem Häuflein Elendsradler vorbei. "Schau dir die alten Säcke an", keucht ein Mittvierziger, "die lassen uns einfach stehen." Nein, das sollten wir anders betrachten: Wie tröstlich, welche Leistung auch in kommenden Jahren noch - theoretisch - möglich ist. Linkes Bein, rechtes Bein, irgendwann kommt man oben an, die einen schneller, die anderen langsamer, die einen jünger, die anderen älter. Alle leiden, fast alle rollen irgendwie weiter.

Doch die Frage nach dem Warum ist damit noch nicht beantwortet. Also, es geht um das Gruppenerlebnis, darum, unter Gleichgesinnten einer Leidenschaft nachzugehen. Aber das lässt sich auch beim Achensee-Marathon, beim Drei-Länder-Giro oder dem Arber Radmarathon in der Oberpfalz erleben. Und noch mehr Kilometer sowie noch mehr Höhenmeter haben längst auch kleine Veranstaltungen wie der Schwarzwald Super im Programm. Doch alle wollen ihren Ritterschlag in die Magengegend beim Ötzi empfangen.

"Die herrliche Tiroler Bergwelt genießen, das ist laut Fragebogen-Auswertung der Hauptgrund, immer wieder beim Ötztaler Radmarathon mitzufahren", schreibt der Veranstalter in einem Begleitheft. Die herrliche Tiroler Bergwelt genießen? Kurz vor der Passhöhe des Timmelsjochs beugt sich ein Fahrer über sein Rad und kotzt neben die Straße. Er ist nicht der einzige, dem das passiert. Herrliche Bergwelt.

"Was soll man schon daran genießen?", sagt Peter Fuchs, Anfang 40, ein überaus lebhafter Triathlet aus Friedberg, Hessen. Er hat eine Zeit definiert, in der er es schaffen will. Peter ist ein penibler Planer. Er hat errechnet, wie viele Watt Leistung er an welchem Anstieg treten, welche Zwischenzeiten er schaffen muss, damit das angepeilte Ergebnis gelingt. Eine einzige Jagd am Limit, was soll man daran genießen?

Es klingt frustrierend, aber Peter trifft es weitgehend. Klar, die Landschaft ist fantastisch. Die Morgensonne auf dem Kühtai, die Almen am Jaufenpass, die Hängegletscher an den Bergen der Texelgruppe nahe dem Timmelsjoch. Doch der Blick dafür geht bald durch die Schinderei und die eigene Jagd nach einer für alle anderen vollkommen unbedeutenden Zeit verloren. Andererseits: Ohne die großartige Kulisse wäre das Leid größer und der Reiz geringer.

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Am Tag vor dem Rennen rollen überall Rennradler durch Sölden, auf und ab, wie eingesperrte Tiere im Zoo, die nicht wissen, wohin mit sich und ihrer Energie. Einrollen, die Nervosität wegtreten. Viele fahren provozierend langsam, wie Sportwagen, die über eine Straße schleichen, als müssten sie ein Revier verteidigen. Zum Start am Sonntag geht es dann tatsächlich ein wenig ums Revier. Wenn sich mehr als 4000 Rennradler aufreihen, entsteht ein Wurm von mehreren Hundert Metern Länge. Viele stellen sich lange vor dem Start um 6.45 Uhr an. Sie wollen weit vorne sein, wenn die Radlerflut losbricht. Auf einer Wiese neben der Startzone stehen zwei Heißluftballons, Männer in Tracht knallen mit Peitschen, ein Moderator plärrt ins Mikro. Dann donnert der Startschuss aus einer Kanone der Ötztaler Schützen, und ein Summen von Tausenden teuren Rennrädern hebt an. Der Schwarm bricht auf.

An den Straßen stehen auf der ganzen Strecke immer wieder Zuschauer und feuern die Fahrer an, mit Glocken, Tröten, Geschrei. Im Feld herrscht Schweigen. Die etwa 30 Kilometer bis Ötz rast der Schwarm mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von mehr als 50 Kilometern pro Stunde. Alle sind konzentriert. Beim ersten Anstieg auf das Kühtai wagen einige noch ein paar Scherze, dann verstummen die meisten und begeben sich in ihren inneren Tunnel. Bergauf, bergab, durch Innsbruck, über den Brenner, über den Jaufenpass, und immer wartet am Ende das Timmelsjoch.

An der letzten Verpflegungsstation fordert schon allein die Nahrungsaufnahme heraus. Aber ohne Essen geht es nicht, sonst erlöschen irgendwann sehr plötzlich alle Lebenslichter - Radler sprechen gerne vom "Mann mit dem Hammer", der einem plötzlich eins überbrät, wenn man in einen sogenannten Hungerast gerät. Außer Zittern und Glotzen geht dann nichts mehr. Also essen, bevor der Hammermann kommt. Nur, es geht nicht mehr. Kuchen, Brote, Riegel, Energiegels lassen sich gegen Ende der Tortur nur mehr mit viel Wasser oder Isogetränken runterspülen, so als seien es Medikamente. Es würgt einen, die Verdauung spielt verrückt. Am Timmelsjoch schweigen die Radler, doch ihre Körper tönen immer wieder.

Dann die Passhöhe, und endlich scheint eine Antwort auf die Frage nach dem Warum auf: Die Glücksgefühle schnüren den Hals zu, als verlöre man kurz die Fassung. Später im Ziel werden einige vor Erleichterung und Freude in Tränen ausbrechen. Auf den letzten Kilometern wandelt sich Leid in Genuss und Schmerz in Stolz. Den allerletzten Fahrern des Feldes wird eine besondere Ehre erwiesen: Begleitfahrzeuge eskortieren sie nach Sölden, die Menge der Zuschauer jubelt ihnen zu wie keinem sonst. Alle sind sich einig: Egal, welche Zeit jemand fährt, den Ötztaler überhaupt durchzustehen, ist etwas, worauf jeder stolz sein sollte.

Im Ziel geschieht dann etwas mit einem. Die Verklärung setzt ein, Glücksgefühle fluten den erschöpften Fahrer. Und das "Nie, nie wieder", das noch am Timmelsjoch durch den Zombie-Schädel hallte, verwandelt sich in die Frage: Wo kriege ich den Startplatz für das nächste Jahr her?

© SZ vom 01.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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