Südtirol:Mythos Ortler

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Blickfang, von der Trafoier Seite aus gesehen: Der 3905 Meter hohe Ortler (links) wird seit seiner Erstbesteigung 1804 auf vielen Routen begangen. Die gefährlichste führt durch die Nordwand. (Foto: imago)

Der höchste Berg in Südtirol ist ein Sehnsuchtsziel für Alpinisten. Die Einheimischen leben gut von ihm, erfahren aber auch immer wieder seine schreckliche Seite.

Von Dominik Prantl

Schon nach seiner ersten Besteigung des Ortlers hatte Ernst Reinstadler von dem Berg die Nase ziemlich voll; er weiß das noch genau. Die Bergschuhe des damals Zwölfjährigen waren schon jahrelang von den Füßen seiner drei älteren Brüder durchgelatscht worden; auf dem Weg nach unten bluteten die Füße. Er lief rückwärts und ein Stück ohne Schuhe, aber das machte die Sache nicht besser. Endlich wieder im Tal angekommen, plagte ihn zwei Tage lang die Schneeblindheit, weil er in der Nacht vor dem Aufstieg die Sonnenbrille auf der Payerhütte zerdrückt hatte. Die Füße zerschlissen, die Augen verbrannt, so schwor sich Ernst Reinstadler damals, anno 1959: "Der Berg sieht mich nimmer."

Heute, ziemlich genau 60 Jahre später, hat er mehr als 1000 Ortlerbesteigungen hinter sich.

Der Mont Blanc ist zwar höher, doch der Ortler ist ein ganzes Stück schwieriger

Man kann sich als Einheimischer dem offiziell 3905 Meter hohen Gebilde aus Schnee und Eis auch nicht wirklich entziehen, vor allem dann nicht, wenn man wie Reinstadler am Fuß des Berges wohnt und einer Bergführerfamilie mit nahezu dynastischen Zügen entstammt. Schon sein Großvater und Vater hatten mit dem Beruf ihr Geld verdient, und der Ortler stand - und das im Wortsinne - über sämtliche Generationen hinweg über allen anderen Bergen der Umgebung. Da kann die benachbarte Königspitze einen noch so schönen (und gelegentlich abbrechenden) Firnwulst namens Schaumrolle bilden und der Monte Cevedale unzählige Skitourengeher im Frühjahr locken: Der unumschränkte Herrscher dieser Gegend ist der Ortler.

Die gehobene Stellung geht mit gewissen Sonderbehandlungen und Huldigungen einher. So wurde beispielsweise die umliegende Berggruppe wie auch die gesamte Tourismusregion mit seinem Namen geschmückt. In der durchaus hierarchischen Bergwelt schaffen das wirklich nur die höchstrangigen Gipfel; die Zugspitze in Deutschland etwa, der Mont Blanc in Frankreich und das Matterhorn in der Schweiz. In Südtirol hat höchstens noch der Blickfänger namens Drei Zinnen einen ähnlichen Stellenwert. Von diesem Sommer an führt zudem ein Höhenweg um das Ortlermassiv herum, um seine Hoheit in respektvollem Abstand umkreisen zu können. Und sogar Reinhold Messner, der als Südtiroler ja selbst so eine Art Ortler ist, hat dem Berg nicht nur das Museum Ortles - wie der Berg auf Italienisch heißt - gewidmet, sondern vor einiger Zeit auch ein Buch über ihn geschrieben, gewissermaßen als Würdigung zum 200. Jahrestag der Erstbesteigung.

Für die muss man sich bis in das Jahr 1804 zurückversetzen, in die Anfänge des Alpinismus. Schon 18 Jahre zuvor war der Gipfel des Mont Blanc erreicht worden, der als Alpendominator zwar fast tausend Meter höher ist als der Ortler, aber rein technisch auch ein ganzes Stück einfacher. Außerdem war der Ortler zu jener Zeit immerhin der höchste Punkt des Habsburger Reichs, weshalb Erzherzog Johann von Österreich persönlich die Erstbesteigung initiierte. Im Grunde gab er freilich nur den Befehl dazu. Den Weg zum Gipfel fand im September 1804 Josef Pichler, ein bis dato unbekannter Gämsenjäger, der auf der heute zum Tourismusmagneten umfunktionierten Churburg arbeitete. Unter dem Spitznamen Pseirer Josele sollte er in die Geschichtsschreibung eingehen. Sein damaliger Weg von Trafoi aus durch Eis und viel Fels dagegen gilt als derart verwegen, dass er heute höchstens für hasardierende Historiker infrage kommt.

Das Gemälde eines unbekannten Malers von 1906 zeigt Bergführer an der Payerhütte. (Foto: Archiv Reinhold Messner/MMM Ortles)

Auf Pichler folgte erst einmal ganz lange fast nichts. So wie der Bergführer Ernst Reinstadler nach seiner Premiere fünf Jahre brauchte, um sich wieder zum Ortlergipfel aufzuraffen, erwachte das Interesse an dem Berg erst Mitte des 19. Jahrhunderts neu. Wie üblich kam zu jener Zeit auch der englische Adel, und er blieb lange. Noch Reinstadlers Vater führte britische Gäste zwischen den Weltkriegen häufig auf die Berge der Ortlergruppe. "Oft war er drei Wochen am Stück mit ihnen unterwegs", erinnert sich der Bergführer, der die Gäste von der Insel anhand der Geschichten als "anfangs misstrauisch, aber gute, flotte Leute" charakterisiert.

Immer öfter wurden neue Routen am Ortler erschlossen, durch Wände und über Grate, mit neuen Stützpunkten als Basis. Der Polar- und Alpenforscher Julius Payer, nach dem die erste, bereits 1875 erbaute Hütte auf mehr als 3000 Metern Meereshöhe benannt ist, fand hier ebenso eine seiner liebsten Wirkstätten wie der durch seine ungeheure Akkuratesse bekannte Landschaftsmaler Edward Theodore Compton. Viele, die hier waren, versuchten sich in wuchtigen Beschreibungen. Der schon in den 1930er-Jahren im Himalaja erprobte Bergsteiger Günter Dyhrenfurth sah eine "unvergleichlich adelige Pyramide", Payer eine "schauervoll großartige Wildnis". Und fragt man zudem Leute wie etwa Robert Eberhöfer, den geschichtlich versierten Kurator des Messner-Museums Ortles, ob der Ortler für die Bergsteigerei damals vielleicht noch wichtiger war, als er es heute ist, dann zögert der keine Sekunde mit der Antwort: "Noch viel wichtiger!"

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Ernst Reinstadler sagt mit leiser Stimme, dass der imposante Berg mit seiner 1200 Meter hohen vereisten Nordwand früher auch noch schöner gewesen sei. Man kann das als melancholische Rückschau eines Mannes abtun, der statt von seinen alpinistischen Taten heute lieber davon erzählt, wie er seinen Hund bei Bergtouren aus seinem Hut trinken lässt. Aber wer die Compton-Bilder sieht, weiß, was Reinstadler meint: Das Gletschereis, das so herrlich mit den bis zu 3000 Meter tiefer gelegenen Tälern des Vinschgau kontrastiert, wird auch hier weniger. Manch ein Anstieg wie jener über den Rothböckgrat sei wegen des höheren Firnanteils früher einfacher gewesen. "Heute ist das sehr brüchiges Zeug", sagt Reinstadler. An vielen Stellen verwittert und bröckelt seine Majestät.

Auf dem Normalweg, einer Tour durch Eis und Fels mit Kletterstellen im dritten Schwierigkeitsgrad, habe man es heutzutage dagegen sogar eher einfacher. Im Hochsommer sind bis zum Bärenloch auf 3200 Metern keine Steigeisen nötig, so Reinstadler. Bei gutem Wetter sei die Payerhütte auch ziemlich voll. "Oft sind zehn Bergführer oben." Reinstadler selbst geht inzwischen lieber auf andere Gipfel der Umgebung, die Weißkugel etwa in den Ötztaler Alpen. Dort ist nicht so viel los, und einfacher und ungefährlicher sei es noch dazu.

Im Ersten Weltkrieg wurden sogar Kanonen auf dem Gipfel postiert

Der Ortler kann ja auch ein echter Killer sein - und das nicht nur wegen der Zeit des Ersten Weltkriegs, als wahnwitzige Stellungskämpfe auf mehr als 3000 Metern geführt und Kanonen sogar am Gipfel postiert wurden. Keiner weiß das besser als Reinstadler. 1999, genau 40 Jahre nach seiner ersten Besteigung, stürzte der jüngere seiner beiden Söhne am Marltgrat in den Tod. Ein Block war ausgebrochen. Es war jenes seiner drei Kinder gewesen, das die Familientradion weiterführen wollte. Noch einmal kam Reinstadler der Gedanke: "Da gehst du nicht mehr hoch."

Er wird trotz allem auch heuer wieder auf den Ortler steigen. Reinstadler sagt: "Für die Bergführer hier ist er das Brot."

© SZ vom 06.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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