Manchmal werden Menschen dazu gebracht, Pionierarbeit zu leisten, obwohl sie nichts weniger möchten. Obwohl sie sich nur nach Normalität sehnen. In diesem Sinn kann man jene Afroamerikaner als unfreiwillige Reisepioniere sehen, die Mitte des 20. Jahrhunderts im eigenen Land verreisen wollten. Sie mussten dabei an so vielen Orten mit Anfeindungen und Ablehnung rechnen, dass Reisen ein Risiko war. Doch ein Postangestellter aus Harlem namens Victor Hugo Green fand, dass Daheimbleiben auch keine Lösung sein durfte.
In loser Folge stellen wir Ihnen hier denkwürdige Weltenbummler vor.
So publizierte er von 1936 an jährlich einen Führer unter dem Titel "The Negro Motorist Green Book". Denn, wie es in der Einleitung zur letzten Ausgabe Anfang der 1960er heißen sollte: "Die meisten Menschen, die in Urlaub fahren, (...) suchen einen Ort, der ihnen Erholung, Entspannung und eine Zuflucht vor den Sorgen des Alltags bietet. Schwarze Reisende (...) sind da keine Ausnahme."
Green wandte sich vor allem an diejenigen, die zu Roadtrips aufbrechen wollten. Der eigene Wagen bot zwar die Chance, den nach Hautfarben segregierten Bussen und Bahnen zu entkommen. Doch Gefahren bei Stops unterwegs blieben. Schlimmstenfalls drohte offene Gewalt in sogenannten "sundown towns", Orten also, in denen sich nach Sonnenuntergang keine Schwarzen auf der Straße zeigen sollten. Dass weiße Lokal- und Hotelbesitzer nicht-weiße Gäste abwiesen, war ohnehin an der Tagesordnung.
Victor Hugo Green (1892-1960), auf einem Foto von 1956.
(Foto: Wikimedia Commons)Green gab deshalb Tipps, wo alle willkommen waren, und seine Reiseführer wurden laut Washington Post zur "Bibel schwarzen Reisens" in Zeiten des Rassismus. Oder wie es das australische Smith Journal ausdrückt: "Fast 30 Jahre lang half der handliche Führer Afroamerikanern dabei, sichere Orte zu finden zum Essen, Schlafen oder Tanzen, für einen Haarschnitt oder eine Maniküre, um den Wagen aufzutanken, einen Anzug machen zu lassen oder ein Paar Schuhe zu kaufen."
Schon lange bevor die große Bürgerrechtsbewegung entstand, beschloss Green sich zu engagieren - motiviert von der Hoffnung, dass es besser werden könnte.
Seine Informationen bezog der Postbote zunächst ganz pragmatisch von Kollegen. Mit deren Hilfe und Ortskenntnis entstanden immer umfangreichere Adressenlisten. Interessierte Geschäftsleute, egal welcher Hautfarbe, sollten sich auch selbst melden, um in der nächsten Ausgabe genannt zu werden oder Werbung zu schalten. Green bat deshalb auch seine Leser, vor Ort zu erwähnen, dass sie über den Tipp zu der Adresse gelangt waren. Zu den besten Zeiten erreichten die "Green Books" an die 100 Seiten und eine Auflage von 15 000 Exemplaren - und man darf davon ausgehen, dass diese durch viele Hände gingen.
Anfangs sammelte Green Tipps für die Gegend von New York City. Doch das Interesse war so groß, dass seine Führer immer weitere Teile der Vereinigten Staaten und schließlich auch Kanada, Mexiko und die Bermudas behandelten. Immer waren sie als alltagstaugliche Begleiter konzipiert, dem Motto auf dem Cover entsprechend: "Carry your Green Book with you - you may need it".
Die Kulturhistorikerin Candacy Taylor kam später zu dem Schluss, die Ratgeber hätten sogar "Leben gerettet", indem sie Schwarze vor wirklich feindseligen Orten warnten und ihnen ersparten, dort attackiert zu werden. Ein Gefühl der Angst versuchte Green dabei aber immer zu vermeiden, die Ausgaben waren mit fröhlichen Illustrationen versehen und betonten das Positive. Schwarze Reisende sollten außerdem, so formulierte es der optimistische Green in einem seiner Reiseführer, sich verstehen als "Botschafter des guten Willens für unsere Rasse bei denen, die uns vielleicht nicht kennen".
Eine Afroamerikanerin wird in Jackson, Mississippi, von einem Warteraum für Weiße an einer Busstation wegdirigiert. Ein Bild vom 25. Mai 1961.
(Foto: Getty Images)Im Zuge des Erfolgs seiner Buchreihe eröffnete Green schließlich auch eine Reiseagentur für Afroamerikaner. Sein größter Wunsch aber blieb, seine Arbeit möge überflüssig werden. "Der Tag wird bald kommen, an dem dieser Führer nicht mehr veröffentlicht werden muss", schrieb er bereits 1949. Den gesetzlichen Durchbruch bei der Gleichberechtigung in den USA durch den Civil Rights Act von 1964 erlebte Green nicht mehr. Seine Erben ließen die Ratgeber danach auslaufen.
In Zeiten von "Travel Bans", verschärften Kontrollen und neuen Mauern zwischen Ländern und Gesellschaftsgruppen wächst bei vielen das Bewusstsein dafür, welches Privileg ungehindertes Reisen eigentlich ist. Auch die Geschichte der "Green Books" erinnert daran - und bleibt relevant angesichts jüngster Debatten um rassistisch motivierte Gewalt (siehe #BlackLivesMatter). Oder wie Greens Biograph Calvin A. Ramsey es 2015 in einem Interview in der New York Times formulierte: "Es gibt immer noch Probleme beim driving while black, doch es ist kein Vergleich zu früher. Aber das wurde hart erkämpft."
Die New York Public Library ermöglicht hier auf ihrer Website Einblicke in die historischen Ausgaben des "Green Book".
"Green Book" heißt auch der Film, der 2019 den Oscar als bester des Jahres erhielt: Ein schwarzer Musiker reist mit einem weißen Chaffeur durch die Südstaaten.
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