Wenn Kapitän Ole Johan Andreassen aus dem Panoramafenster schaut, sieht er vor sich das Blaugrau des Meeres. Dahinter liegt die Skyline von New York. Mit jedem Meter, den sein Schiff Fahrt aufnimmt, werden die Türme aus Glas, Stahl und Backstein kleiner. Er sitzt auf einem schwarzen Drehstuhl auf der Brücke der MS Fram, des ersten Expeditionsschiffes der norwegischen Reederei Hurtigruten. Auf Monitoren leuchten und blinken Zahlen und Pfeile. Sie zeigen ihm die Route, den genauen Standort, messen die Strömung, die Windgeschwindigkeit, die Wassertiefe. Ole Johan Andreassen, spärliches weißes Haar, randlose Brille, Falten um die Augen, lebt seit 41 Jahren auf dem Meer. Seit elf Jahren ist er Kapitän. Er sagt: seit elf Saisons.
Andreassen wuchs an der norwegischen Küste auf. Er sagt, jeder dort ist Seemann. "Mein Vater, meine Schwestern, meine Brüder und meine Onkel fuhren zur See." Es lag nahe, dass er sich am Hafen einen Job suchte. Mit 15 Jahren arbeitete Andreassen zum ersten Mal auf einem Frachter, zwei Monate am Stück. Mit 17 fuhr er regelmäßig aufs Meer hinaus. Seitdem hat er nie etwas anderes gemacht.
Fünfzehn Tage lang steuert Andreassen die MS Fram an der Ostküste der USA entlang - von Miami, über Charleston, New York, Boston, Rockland, Eastport und Halifax bis nach St. Johns. Von Metropolen mit 8,5 Millionen Einwohnern bis zu Kleinstädten mit 1300 Einwohnern. Von 30 Grad plus über Nebel und Sturm bis hin zu Winterjackenwetter. Genauso abwechslungsreich wie das Wetter ist die Landschaft. Gerade im Herbst lockt ein Naturschauspiel zahlreiche Besucher an die Ostküste der USA: der Indian Summer. Die Laubbäume bereiten sich auf den Winter vor, Chlorophyll wird abgebaut, die Blätter färben sich bunt.
Am Tag vier, als das Schiff den Hafen von New York verlässt, ist die Stadt in Nebel gehüllt. Die Spitze des One World Trade Center ist kaum zu erkennen, das Heulen der Sirenen klingt gedämpft, die gleißenden Lichter verwischen. Das Meer ist grau.
Weißer Schaum schlägt gegen das Schiff. Mit sechs Knoten fährt die Fram über fünf Meter hohe Wellen. Kapitän Andreassen sagt: "Die Fram kann durch 60 Zentimeter dickes Eis fahren." Er meint: Ein Sturm hält sie nicht auf. Wie zur Beruhigung erzählt er von einem Sturm vor Montevideo, bei dem zwölf Meter hohe Wellen das Schiff 24 Stunden an einem Punkt festhielten. Er sagt: "Man muss sich dem einfach stellen. Das Schiff ist für extreme Konditionen gebaut. Es ist sicher." Er sagt es mit der Ruhe eines halben Lebens auf See.
Schaukelnd, aber sicher kommt die Fram im Hafen von Boston an. Hier betraten Millionen Menschen aus Europa zum ersten Mal amerikanischen Boden - hoffend auf ein besseres Leben, einen Neuanfang, ein neues Zuhause. Sie hatten Europa verlassen ohne ein Visum oder eine Aufenthaltsgenehmigung für die Vereinigten Staaten. Die Einwanderer von damals gehören heute zur Stadt dazu wie die Denkmäler, Museen und Kirchen. Längst sind neue Migranten, meist aus Asien, der Karibik oder Lateinamerika, nachgerückt.
In Boston ist die Geschichte der USA zum Greifen nah, auch die Einwanderungsgeschichte
So direkt wie nirgendwo sonst lässt sich hier die Geschichte der USA erleben. Im Boston Common, einem beliebten Park, erinnert die Statue von Mary Dyer an die Hexenverbrennungen, das Boston Tea Party Museum markiert den Ort, wo einige Bostoner Bürger vor fast 250 Jahren 342 Kisten Tee ins Meer warfen, um sich gegen die britische Kolonialherrschaft aufzulehnen, die Tore von Harvard geben Einlass in die älteste Universität des Landes. Und wer am Omni Parker House Hotel vorbeigeht, wird darauf aufmerksam gemacht, dass hier John F. Kennedy um die Hand von Jacqueline Lee Bouvier anhielt.
Je weiter sich die Fram nach Norden bewegt, umso weniger Menschen begegnet man. In Rockland gibt es keine Hochhäuser und nur wenige Museen. Hinter einem kurzen Abschnitt Strand sind Wiesen. Zuggleise enden mitten in der Landschaft. Die Straßen sind leer, die bunten Holzhäuschen sehen verlassen aus. Eine Frau im T-Shirt fragt die Passagiere der Fram, die Winterjacken tragen: Woher kommt ihr? Es passiert nicht oft, dass ein so großes Schiff hier anlegt.
Einen Tag, bevor das Schiff Halifax erreicht, sitzt der Kapitän in seinem Drehsessel auf Deck sechs und erzählt von der Fram, als sei sie eine Geliebte. Er sucht nicht nach Worten. Es ist nicht das erste Mal, dass er erzählt, wie er vor elf Jahren dabei war, als sie zusammengesetzt wurde. "Ich weiß genau, was hinter diesen Wänden ist", sagt er.
Zwei Mal im Jahr wechselt die Fram die Hemisphäre. Wie ein Zugvogel folgt sie dem Sommer. Von Ende Oktober bis März fährt sie in die Antarktis, im Frühling steuert sie nach Norden: USA, Kanada, Norwegen. Vom April 2007 bis zum Oktober 2018 hat die Fram 802 299 Nautische Meilen aus den Weltmeeren zurückgelegt. Ihr Kapitän hat nie gezählt, wie viele Seemeilen er in seinem Leben zurückgelegt hat. Entfernungen rechnet er in Tagen: 19 Tage sind es von Norwegen bis nach Grönland, 88 bis in die Antarktis, 20 Tage, bis der Tank des Schiffes wieder gefüllt werden muss. Er kann auch nicht genau sagen, wie viele Länder er angesteuert hat und wie oft. "Ich glaube, Mexiko war Nummer 39", sagt er nüchtern. Bald verlässt die Fram die USA, nur noch ein Stopp vor Kanada.
In Eastport, der östlichsten Stadt der USA, scheint die Sonne, die Passagiere halten nach Walen Ausschau, nach Adlern und Delfinen, die sich hier in den Sommermonaten tummeln. An der Küste von Eastport stehen Häuschen da wie zufällig dorthin gewürfelt. Vor dem Fish Pier, der vor einigen Jahren mitten in der Nacht in einem lauten Knall zusammenbrach, steht die Statue eines überlebensgroßen Fischers. Ende des 19. Jahrhunderts gab es hier 18 Sardinenfabriken. Heute werben Schilder mit der Aufschrift "fresh seafood" um Gäste. Am Breakwater Pier liegen Kutter und Hummerboote. Neben ihnen sieht die Fram riesig aus. Noch nie zuvor hat hier ein Kreuzfahrtschiff angelegt.
Am Nachmittag bahnt sich die Fram ihren Weg nach Kanada. Mit 14,5 Knoten (knapp 39 Kilometer in der Stunde) bewegt sie sich durch das 185 Meter tiefe Wasser. Kapitän Andreassen blickt durch das Fernglas. Der Atlantische Ozean vor ihm schlägt leichte Wellen. Kein Schäumen ist zu sehen, nur Blau.
Andreassen sagt, er war nie seekrank, und er werde auch nie müde, auf den Ozean zu schauen und sein Leben in Vier-Wochen-Zyklen zu planen: Vier Wochen ist er auf See - jeden Tag an einem anderen Ort, vier Wochen zu Hause auf den Lofoten. Im Sommer, wenn die Sonne nicht untergeht, holt er sich dort die Energie für den Winter. Zu Hause legt er seine Uhr weg, und die Zeit verliert ihre Bedeutung. Ein Nine-to-Five-Job komme für ihn nicht in Frage. Er brauche die Abwechslung. Dafür nimmt er in Kauf, dass er oft auch Weihnachten und Neujahr auf dem Schiff verbringen muss. "Klar denke ich an meine Familie." Er macht eine Pause und wirft schnell nach: "Aber an Bord gibt es norwegisches Essen und einen Weihnachtsbaum. Wir lesen das Evangelium, und die Crew feiert gemeinsam. Das ist auch schön."
Der Kapitän blickt aus dem Panoramafenster und beobachtet schweigend das leichte Auf und Ab der Wellen. Irgendwann sagt er: "Das hier ist mein Zuhause." Er meint kein Land und auch nicht sein Zimmer an Bord mit den abstrakten Bildern an der Wand, dem Flachbildschirm, der langen Eckcouch und dem Leuchtturm aus Holz auf dem Nachttisch. Er meint die Brücke, den Ort, von dem aus er das Meer sieht.