Allgäu:Das neue Yoga

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Sich einfach auf den Moment, das Erlebnis fokussieren: Das geht beim Yoga genauso wie bei einem Spaziergang in der Natur. (Foto: Enno Kapitza)

Mit Achtsamkeit wird im Tourismus viel geworben. Aber was haben die Gäste davon? Bei einem Besuch im Allgäu findet man Antworten.

Von Ingrid Brunner, Balderschwang

Christa Traubel steht vor einem Feuer und wirft Bärlappsamen in die Flammen. "So sei es", spricht sie in die sprühenden Funken hinein. Ein altes keltisches Ritual sei das, erklärt die Seniorchefin des Hubertus Mountain Refugio in Balderschwang. "Der Herbst ist im Jahreskreislauf die Zeit des Rückzugs, des Loslassens und des Sterbens - damit Neues entstehen kann." Ende Oktober feierte Christa Traubel deshalb mit den Hotelgästen das keltische Samhain, das als Ursprung von Halloween gilt. Die Gäste müssen deshalb nicht auf Bäume klettern und Misteln schneiden, wie einst die Druiden, sie sehen es wohl eher als besinnliche Unterhaltung.

Auch für Christa Traubel ist die Samhain-Feier keine Glaubenssache, vielmehr eine Rückbesinnung auf die Natur und die Veränderungen mit den Jahreszeiten. "Achtsam sein" nennt sie das. Dazu gehöre, mit offenen Augen hinauszugehen, sich gesund zu ernähren, sich zu bewegen, in die Stille zu gehen. All das kann man zu Hause probieren, in einem Aschram in Asien, in einem Schweigekloster - oder auch im Hubertus in den Allgäuer Hochalpen. Denn dort, auf 1044 Metern, hat die Hoteliersfamilie Traubel einen Ort geschaffen, in dem sich alles um Achtsamkeit dreht. Wer dort zu Gast ist, hat die Wahl, auf welche Art er oder sie sich dem Thema nähern möchte: beim Wandern oder Wellness, Meditieren oder Yoga? Draußen oder drinnen? "Man muss es draußen erleben, auf täglichen Wanderungen, bei einer Meditation oder bei Yoga im Freien", sagt Christa Traubel. In der Natur, sagt sie, sei man immer ein Stück präsenter. Klarheit erlangen und zur Ruhe finden, dass schaffe man draußen leichter als im gesicherten Raum.

Mit zunehmender Popularität wird es immer beliebiger, was alles unter Achtsamkeit firmiert

Was aber ist diese Achtsamkeit überhaupt, mit der gerade für alle möglichen Produkte und Dienstleistungen geworben wird? Ihre Wurzeln sollen in ostasiatischen Philosophien liegen, etwa dem Taoismus und dem Zen-Buddhismus. Eine der gängigsten Definitionen sieht darin eine bestimmte Form der gezielten, nicht wertenden Aufmerksamkeit, die sich auf den gerade erlebten Moment bezieht und nicht auf Vergangenheit oder Zukunft. Ziel ist es, zum Beispiel durch Meditation geistige Klarheit, Gelassenheit und innere Ruhe zu erlangen. Achtsamkeitsübungen werden auch in der Psychotherapie genutzt, zur Stressreduzierung, bei Depressionen und Angststörungen. Mit zunehmender Popularität wird es freilich immer beliebiger, was alles unter Achtsamkeit firmiert; sie ist, wie vorher schon die Yoga-Bewegung, dem Marketing zum Opfer gefallen: Längst gibt es Seminare dazu, Coachings, Retreats und jede Menge Achtsamkeitsliteratur - bis hin zur tiefschwarz-ironischen Bestseller-Reihe "Achtsam morden" des Autors Karsten Dusse.

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Nicht nur das Hubertus, das gesamte Allgäu hat die Achtsamkeit als Geschäftsfeld entdeckt. "Achtsamkeit ist ein Zukunftsthema", sagt Barbara Weißinger. Man könnte auch sagen: Achtsamkeit ist das neue Yoga. Weißinger ist als Produktmanagerin bei der Allgäu GmbH für die Bereiche Gesundheit und Wellness zuständig. Seit 2018 gibt es als drittes Standbein die Produktlinie "Achtsamkeit Allgäu". Aktuell werden elf Hotels als Achtsamkeitshotels vermarktet. Wobei einige dieser Häuser zugleich Wellness-Hotels sind. Was plausibel ist, denn die Schnittmengen zwischen wohlfühlen und achtsam sein sind groß. Warum Achtsamkeit ausgerechnet im Allgäu ein Riesenthema ist? Für Weißinger ist das ganz klar: "Das Allgäu zieht von jeher spirituelle Menschen an. Wir haben hier eine Tradition von Heilern, von Kräuterkundigen, dazu ein Heilklima, zum Beispiel für Allergiker und Menschen mit Atemwegserkrankungen", erklärt sie. Die Menschen der Region hätten traditionell eine enge Verbindung zur Natur.

Beim Tai-Chi geht der Blick auf eine Betonmauer. Sie schützt das Hotel vor Lawinen

Warum sich dort also nicht mal in Achtsamkeit üben? Im lichtdurchfluteten Yoga-Raum des Hubertus gibt Manfred Bechter eine Stunde Tai-Chi. Der Schweizer spricht sehr leise und ist deshalb schwer zu verstehen. Macht aber nichts: Man überlässt sich einfach seinen fließenden, langsamen Bewegungen. Locker in der Hocke stehen, ganz im Hier und Jetzt sein, die Umgebung wahrnehmen, ohne zu urteilen. Aussteigen aus dem Gedankenkarussell. Ist das schon achtsam? Der Blick schweift nach draußen, fällt auf einen Naturteich, verweilt auf dem Zen-Garten. Doch da, ein Störer: gleich hinter dem Garten eine massive, wuchtige Betonmauer, über der ein stahlblauer wolkenloser Herbsthimmel steht. Hier ist nun Achtsamkeit für Fortgeschrittene gefragt.

Und die sieht so aus: Im Januar 2019 hatte eine Lawine gut die Hälfte des Hotels zerstört - vorwiegend betroffen war der Spa-Bereich. "Der Schnee drang bis in die Zimmer, einige Gäste hatten Schnee im Bett", erinnert sich der junge Hotelchef Marc Traubel. Kein Mensch kam zu Schaden. Aber eine solche Lawine hatte es noch nie gegeben im nur 250 Einwohner zählenden Balderschwang. Ein Jahrhundertereignis, ähnlich wie die Flut im Juli 2021 im Ahrtal. Zwei Tage lang habe die Bergwacht Schnee geschippt, erzählt Traubel. Und so wie viele Menschen im Ahrtal, denen Haus und Existenz weggespült wurden, sagt der Juniorchef: "Für mich war sofort klar, dass wir den Spa genau an der gleichen Stelle wiederaufbauen würden" - schöner und größer als zuvor. Die Behörden genehmigten den Bau - allerdings unter strengen Auflagen: Nun schützen die Betonmauer und im Hang aufgestellte Lawinenfangzäune das Haus.

Wein und Cocktails sind auch erlaubt, denn es geht um Lebensfreude

Seit Juli ist nun der neu aufgebaute Spa geöffnet. Besser eine Spa-Kathedrale. Die luftig-transparente Holzkonstruktion versammelt auf drei Ebenen und 4500 Quadratmetern alles, was der anspruchsvolle Kunde erwartet, ob er nun achtsam ist oder nicht. Der Spa ist aber nur ein Element, das ganze Haus ist Schauplatz der ganzheitlichen Denkweise: ein Steinkreis um eine Bonsai-Tanne, chinesische Schriftzeichen, Yoga, Ayurveda, Naturkosmetik. In Veränderungs-, Natur-, Ernährungs- und selbstredend Achtsamkeitscoachings können Gäste lernen, ihren Lebensstil zu ändern, ihn stressfreier, gesünder zu machen. So zeigt der mexikanische Kochcoach Gabriel Simòn Pinero den Gästen, wie sie sich gesunde Mahlzeiten zubereiten können, und mischt für sie passend für ihre jeweilige Verfassung Gewürz- und Kräutertees. Einige seiner durchaus wohlschmeckenden Rezeptvorschläge stehen zum Probieren auf dem Frühstücksbuffet.

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Wer bei so viel Achtsamkeit nun denkt, man müsse ehrfürchtig schweigend durchs Haus tippeln, der irrt: An der Bar in der Lobby, in den Restaurants sitzen fröhliche Menschen, sie lachen und genießen einen Wein oder einen Cocktail. Es gehe immer um Lebensfreude, ja Lebenslust, darum, den Moment zu genießen, sagt Christa Traubel - und darum, den feinen Unterschied zwischen Lust und Gier zu erkennen. "Achtsamkeit bedeutet immer zu wissen: Was tut mir gut?" Letztendlich sei Achtsamkeit nur ein anderes Wort für Selbstverantwortung.

Das Hubertus Mountain Refugio hat eine Mindestaufenthaltsdauer von drei Nächten. Preis ab circa 190 Euro pro Person und Nacht. Der Preis enthält Frühstücksbuffet, Mittagssnack und das Abendmenü sowie Spa-Nutzung. hotel-hubertus.de

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