Blockade von Leningrad im Zweiten Weltkrieg:Als die Menschen Leim und Ratten aßen

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Leningrader Kind mit Hungermerkmalen 1943/44, dem letzten Winter, in dem die Stadt eingeschlossen war. (Foto: Imago Stock&People)

Etwa 900 Tage ließ Adolf Hitler das heutige St. Petersburg im Zweiten Weltkrieg belagern. In der Stadt spielten sich grauenhafte Szenen ab.

Von Oliver Das Gupta

Der Befehl von Adolf Hitler vom September 1941 war eindeutig: Der Nazi-Diktator ordnete an, dass die Wehrmacht die sowjetische Großstadt Leningrad nicht einnehmen sollte. Der seinem Rassenwahn verfallene "Führer" hatte Schlimmeres vor. Nach seinem Plan sollte die Stadt der Oktoberrevolution von 1917 durch systematisches Aushungern ihrer Bewohner ausgelöscht werden.

Hitler erklärte, mit diesem Schritt "das Problem des Verbleibens und der Ernährung der Bevölkerung" zu verhindern, die von einer deutschen Besatzung mit Lebensmitteln versorgen zu wären. Stattdessen sollten die Menschen den Hungertod sterben. Gleich nach Beginn der Belagerung bombardierte die deutsche Luftwaffe gezielt Lebensmittelspeicher in der Stadt.

Etwa 900 Tage währte die Blockade von Leningrad, das inzwischen wieder Sankt Petersburg heißt. Die Aushungerung der Stadt gilt als eines der schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.

Mehr als eine Million Menschen starben zwischen 1941 und 1944 an Hunger, Kälte und Krankheiten sowie bei Granatbeschuss und den Kämpfen um die Stadt.

Die Gesamtzahl der militärischen und zivilen Verluste bei der Blockade Leningrads wird in einigen Quellen auf bis zu 1,5 Millionen Menschen beziffert. Der "Leningrader Kessel" konnte nur aus der Luft und im Winter über das Eis des Ladogasees versorgt werden.

In der Stadt waren die Zustände grauenhaft, gerade im Winter 1941, als die Temperaturen auf minus 40 Grad fielen. Brennmaterial war knapp, aber noch schlimmer war der Hunger. Die Lebensmittelrationen bestanden teilweise nur aus 125 Gramm Brot.

Die Behörden registrierten 1000 Fälle von Kannibalismus

In ihrer Not kochten die Menschen Lederwaren aus und aßen die so gewonnene Gallerte. Sie aßen Katzen, Ratten und Blätter, kratzen Leim von den Tapeten, streckten Brot mit Sägemehl. Die sowjetischen Behörden registrieren im ersten Blockadewinter 1941/42 mehr als 1000 Fälle von Kannibalismus.

Immer mehr Menschen starben, auf den Straßen der Stadt lagen ausgemergelte Körper. Eine Gedenkstätte auf dem Friedhof von Piskarjowskoje, auf dem etwa eine halbe Million Tote in Massengräbern beerdigt sind, erinnert daran, wie die deutsche Heeresgruppe Nord und finnische Truppen die Millionenstadt ab 1941 einkesselten. Etwa eine Million Menschen konnte bis 1942 von den Sowjets aus der Stadt in Sicherheit gebracht werden.

Am 18. Januar 1944 wurde die Blockade durchbrochen. Am 27. Januar 1944 vertrieben sowjetische Truppen die letzten deutschen Soldaten aus der geschundenen Stadt. Ein Jahr später befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz.

In Deutschland wird der Opfer der NS-Diktatur am 27. Januar gedacht. In Russland wird an diesem Tag das Ende der Leningrader Blockade gefeiert. Bei der Befreiung lebten in der nach Revolutionsführer Lenin benannten Stadt nur noch 800.000 der einst 2,5 Millionen Einwohner.

Mit Material der Agenturen.

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Mit Bildern aus dem Archiv von SZ Photo
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