Gerechter Lohn:App in die Arbeit

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Wer daran denkt, sich morgens einzuloggen, ist gut beraten. Doch die App "Timesec" erlaubt auch nachträgliche Korrekturen der Arbeitszeit. (Foto: Friedrich Bungert)

Hubertus Heil will die elektronische Zeiterfassung für alle Unternehmen vorschreiben, Wirtschaftsvertreter und die FDP halten das für nicht praktikabel. In Berlin probiert man es bereits aus - mit dem Smartphone.

Von Roland Preuß, Berlin

Er musste sich schon umgewöhnen, sagt Arne Heidenreich. "Am Anfang habe ich vergessen mich einzuloggen, herrje, dachte ich!" Heidenreich ist Maurer, an diesem Vormittag Ende April steht er auf einem Gerüst im Hof einer Grundschule im Berliner Stadtteil Wedding und zieht sein Handy aus der Brusttasche. Ein Knopfdruck und auf dem Smartphone, das offenbar schon einen Sturz vom Baugerüst hinter sich hat, scheint eine App auf mit Wochentagen, Uhrzeiten und Buttons wie bei einem Musikplayer.

Heidenreich drückt auf das quadratische Symbol. Damit stoppt er den Zähler für die Arbeitszeit, Heidenreich macht nun offiziell Pause. Daneben sind die Zeiten für den heutigen Tag abzulesen: 6.59 Uhr Arbeitsbeginn, 9.03 Uhr erste Pause. Jetzt, um 11.40 Uhr, drückt Heidenreich auf ein Dreiecksymbol, quasi die Play-Taste, neben dem Zähler erscheint ein grünes Pünktchen, die Arbeitszeit läuft weiter. Heidenreich steigt vom Gerüst in den Schulflur, der Maurer verputzt weiter den Eingang zur Toilette.

"Wenn man ans Einloggen denkt, dann ist es von Vorteil", sagt Heidenreich. "Es ist fairer, weil es die Arbeitszeit genauer aufzeichnet." 44 Jahre arbeitet Heidenreich, 59, schon auf dem Bau, er hat bereits einige Modelle erlebt. Früher habe man die Zeiten in Bautagebücher eingetragen. "Ist es mal länger geworden, hat man auch nicht aufgerundet." Oder die Stunden wurden auf Zetteln notiert und eingereicht. Damit ist in Heidenreichs Firma, der WST-Bau Schulte GmbH in Berlin, seit gut einem Jahr Schluss. Sie ist auf die App umgestiegen.

Vergangene Woche hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil einen Gesetzentwurf zur Arbeitszeiterfassung vorgelegt. Der Sozialdemokrat will grundsätzlich alle Betriebe dazu verpflichten, die Stunden ihrer Beschäftigten täglich elektronisch aufzuzeichnen. Ein großer Teil macht das bisher noch auf Papier, manche gar nicht. Ausnahmen dürften laut Heil nur Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammen zulassen, per Tarifvertrag. Für Unternehmensvertreter erhebt sich damit ein Zombie aus der Gruft, den sie schon für erledigt gehalten hatten.

Für Arbeiter auf Baustellen ist elektronische Zeiterfassung nicht praktikabel, heißt es

Vergangenes Jahr hatte Heil bereits versucht, über Passagen im Mindestlohngesetz eine elektronische Aufzeichnung durchzusetzen, wenigstens in Branchen, die anfällig sind für Schwarzarbeit. Vertreter aus Bauwirtschaft und Reinigungsbranche protestierten, auf Druck der FDP verschwanden die Sätze wieder aus dem Gesetzentwurf. Auch jetzt verlangt der liberale Koalitionspartner wieder eine Überarbeitung von Heils Plänen, denn sie seien unnötig streng.

Die elektronische Zeiterfassung sei für mobil eingesetzte Arbeiter auf Baustellen nicht praktikabel, argumentiert etwa die Bundesvereinigung Bauwirtschaft. Für die Betriebe würden die Bürokratiekosten deutlich ansteigen, sagte Verbandschef Marcus Nachbauer beim letzten Anlauf. Es kämen nur zwei Möglichkeiten infrage, nämlich fest installierte Terminals zur Zeiterfassung oder mobile Zeiterfassungsgeräte, die der Arbeitgeber stellen müsse.

Mobile Geräte würden die Baubetriebe "Hunderte Millionen Euro" kosten. Vom Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks hieß es, die Beschäftigten erledigten die Arbeit, anders als in Unternehmen mit Stechuhr, oft auf wechselnden Baustellen, die sie direkt von zu Hause anfahren. Also müssten alle Mitarbeiter mit tragbaren Zeiterfassungsgeräten ausgestattet werden.

Bei der Sozialkasse des Berliner Baugewerbes, die die Sozialabgaben der Branche in der Hauptstadt einsammelt, kennt man die Bedenken - und hat zusammen mit dem German Deep Tech Institute in Potsdam eine Lösung entwickelt. Eine App, die nun seit einem Jahr einfach ausprobiert wird, in Pilotunternehmen wie WST-Bau Schulte. Es ist die App, die Arne Heidenreich nun täglich auf seinem Handy nutzt.

Die App wirft Fragen nach dem Datenschutz auf

Unten im Schulhof steht der Firmenchef, Eckhard Schulte. "Zeiterfassung ist immer auch Vertrauenssache zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber", sagt er. Wenn die ersten Mitarbeiter morgens auf der Baustelle auftauchten, sei in der Regel noch kein Vorgesetzter da, der den Arbeitsbeginn kontrollieren könne. Mit der App werde beim Einloggen nun auch der Standort des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin registriert. Wenn sich jemand schon beim Frühstück in der Kneipe um die Ecke einloggt, so fällt das auf. "Die App ist erstaunlich einfach - und erspart uns viel Aufwand bei der Lohnabrechnung", sagt Schulte. Während früher mühsam alle handschriftlichen Einträge in den Computer eingegeben werden mussten, übermittelt die App "Timesec" die Arbeitszeit nun elektronisch an die Buchhaltung.

Natürlich wirft so eine App Fragen nach dem Datenschutz auf. Etwa die Funktion, dass beim Ein- und Ausloggen die Standortdaten per GPS erfasst werden. Für Schulte ist das sehr praktisch, denn so kann er nicht nur Betrug bemerken, sondern auch feststellen, auf welcher Baustelle ein Beschäftigter an diesem Tag arbeitet. "Man kann das GPS auch ausschalten", sagt Arne Heidenreich. "Aber dann fragen die halt, warum."

Warum ist Eckhard Schulte als Arbeitgeber für die Zeiterfassung, anders als die Verbandsvertreter seiner Branche? Das hat mit den Zuständen in der Berliner Bauwirtschaft zu tun. Lohnbetrug und damit die Hinterziehung von Sozialabgaben ist offenbar weit verbreitet. Laut Sozialkasse lasten tarifgebundene Betriebe ihre Beschäftigten im Schnitt zu 90 Prozent aus, die anderen angeblich nur zu 60 Prozent - es werden also weniger Stunden angegeben und dafür Sozialabgaben gezahlt, obwohl vielerorts eifrig gebaut und saniert wird. "Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum jemand nur halbtags auf die Baustelle geht", sagt Schulte. "Es gibt Widerstand gegen die elektronische Zeiterfassung, weil es so viele schwarze Schafe gibt." Diese skrupellosen Betriebe machen gesetzestreuen Unternehmen das Leben schwer, denn sie können oft billiger anbieten, weil sie Steuern und Sozialabgaben hinterziehen.

Im Baugewerbe werden viele Sozialabgaben hinterzogen. Mit der elektronischen Zeiterfassung ließe sich das bekämpfen, hoffen viele. (Foto: Friedrich Bungert)

Man habe zwar schon umfangreiche Meldepflichten in der Branche, aber sie ließen sich kaum kontrollieren, sagt Christine Heydrich, die Geschäftsführerin der Sozialkasse des Berliner Baugewerbes. Das sei seit vielen Jahren ein Problem. Für die vergangenen fünf Jahre schätzt die Sozialkasse den Schaden durch nicht gezahlte Steuern und Sozialabgaben auf rund 430 Millionen Euro. "Mit einer fälschungssicheren elektronischen Zeiterfassung lässt sich dieser Lohnbetrug gut bekämpfen", sagt Heydrich.

Die Sozialkasse und das German Deep Tech Institute (GDTI) bieten die App in einer Basisversion kostenlos zum Runterladen an. Wer mehr will, etwa eine Datenübertragung an die Firmenbuchhaltung, muss dafür zahlen. Selbst wer die App nicht auf seinem Handy installieren wolle, könne das System nutzen, sagt GDTI-Geschäftsführer Sören Ladig. Es genügten spezielle Plastikkarten, sogenannte RFID-Karten, mit denen man sich auf einem anderen Handy ein- und ausloggen könne, etwa dem Gerät eines Vorarbeiters. "Das Smartphone wird so zum Terminal", sagt Ladig. Zu einem der Zeiterfassungsgeräte, die laut den Unternehmensvertretern angeblich so hohe Kosten verursachen würden. Selbst Behörden wie der Zoll könnten so die Arbeitszeitdaten für Kontrollen herunterladen. "Technisch ist das kein Problem, aber rechtlich ist das nicht möglich", sagt Ladig.

Zurück zu Arne Heidenreich. Er konnte sich auch deshalb mit der App anfreunden, weil sie seine Vergesslichkeit nicht bestrafte. Eine nachträgliche Änderung der Arbeitszeit ist möglich. Heidenreich holt noch mal sein Handy aus der Brusttasche. Man müsse immer einen Grund dafür angeben, sagt er, drückt auf "fertig" - und die Daten sind korrigiert. Allerdings wird jede Änderung protokolliert, um nachträgliche Manipulation zu erschweren. "Man kann so keinen Arbeitszeitbetrug mehr machen", sagt Heidenreich.

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