Es ist ein Freitagabend in Berlin-Schöneberg, Yonatan Langer sitzt zum Schabbatessen im Kabbalazentrum. Es gibt koschere Reisgerichte, Salate, Hühnchencurry, der Rotwein kommt aus Israel. Am Tisch sitzen Kabbalalehrer und Schüler und Besucher aus anderen Ecken Deutschlands, manche begegnen sich zum ersten Mal. Sie reden über Trump, über das Wetter in Miami, und jeder möchte vom anderen wissen, wie er Kabbala entdeckt hat. Eine Siemensmanagerin aus München sitzt Yonatan Langer gegenüber. Sie schaut ihn an, sagt: "Und Du, was hast Du gemacht, bevor Du Kabbala für dich entdeckt hast?"
Er hält kurz inne, wägt ab, dann sagt er die Wahrheit. "Ich war die meiste Zeit in meinem Leben Nazi." Stille am Tisch, alle Blicke sind auf Yonatan Langer gerichtet. Die Managerin gewinnt als erste ihre Fassung wieder: "Wie kommt man denn dazu - Nazi zu sein und dann Jude zu werden?"
Es ist eine Frage, die Yonatan Langer nicht zum ersten Mal gestellt wird. Manchmal schüttelt er den Kopf - über sich selbst. Achtmal, über mehrere Monate hinweg, trifft man sich mit ihm, im indischen Restaurant, bei Spaziergängen in Berlin-Adlershof und in Parks, bei ihm Zuhause, und auch nach der achten Begegnung fällt es einem schwer, sich diesen höflichen, hilfsbereiten, freundlichen Menschen als Nazi vorzustellen, der Himmler und Hitler vergöttert hat.
Aufgewachsen ist Yonatan Langer in den Berliner Plattenbausiedlungen Marzahn und Hohenschönhausen, damals hieß er noch Lutz. Neben der Schule hat er Kunstturnen und Karate als Leistungssport betrieben. Mit 14 Jahren, auf einem Trainingslager mit älteren Sportlern, hört er zum ersten Mal Musik verbotener Nazigruppen wie "Störkraft". Er ist fasziniert. Er besorgt sich die Musik, er schaut antisemitische Filme wie "Jud Süß" mit seinen neuen Freunden, und er reckt den Arm zum Hitlergruß. In SS-Männern sieht er Helden, in Ausländern Menschen, "die in Deutschland nichts zu suchen haben". Mit derselben eisernen Disziplin, mit der er Leistungssport betrieben und auf Wettkämpfen Goldmedaillen gewonnen hat, hat Langer Ausländer, Schwule, Linke, Juden verachtet.
Wenn er sich heute seinen Hass von damals in Erinnerung ruft, erschrickt er über sich selbst: Habe ich wirklich einmal so gedacht? Heute heißt Lutz mit Vornamen Yonatan, der neue Vorname steht in seinem Personalausweis, er trägt eine Kippa, die Kopfbedeckung religiöser Juden, und jeden Morgen steht er um sechs Uhr auf, bindet sich Lederriemen um den linken Arm und betet. Der 33 Jahre alte Mann aus dem Erzgebirge, der einmal Juden gehasst hat, ist jetzt auch einer.
Die Geschichte von Yonatan Langer ist auch die Geschichte einer Reise zu sich selbst. Er sagt: "Ich habe in diesem Nazitum festgesteckt wie in einem Tunnel." Geholfen, auszusteigen, haben Yonatan Langer mehrere kleine Momente und ein großer, Gespräche mit einer Therapeutin und mit dem Leiter des "Exit"-Aussteigerprogramms für Nazis - und ein Boxsack. "Der war echt nötig", sagt Langer. "Da konnte ich meine Aggressionen loswerden, die sich in mir angestaut hatten."
Langer liest heute nicht mehr "Mein Kampf", sondern gerade die Autobiografie einer Holocaust-Überlebenden. Karate macht er auch nicht mehr, "das hatte etwas Zerstörerisches", er joggt nun durch Parks. "Ich lebe jetzt zum ersten Mal in meinem Leben bewusst", sagt er zum Abschied nach der letzten Begegnung.
Ein paar Tage später ruft Yonatan Langer an, fragt, ob man einen kleinen Moment Zeit habe. Am Wochenende hatten Mitglieder der rechtsextremen "Identitären Bewegung" in Berlin demonstriert, gegen Flüchtlinge und "die Islamisierung Deutschlands". Langer wäre früher wohl mitgelaufen sagt er. "Ich verstehe, wie die denken", sagt er. "Aber ich akzeptiere es nicht mehr. Die müssen einfach arbeiten gehen und am Leben teilhaben, dann erledigt sich aller Rechtsextremismus von selbst."