Frage vorweg: Wie sinnvoll kann eine Biografie sein, wenn der Biografierte noch mitten in seinem Wirken begriffen ist? Der Rennradfahrer Jan Ullrich beispielsweise hat 2004 vom damaligen ARD-Journalisten Hagen Boßdorf ein Buch über sich schreiben lassen. Da hatte Ullrich zwar längst die Tour de France gewonnen, seine Karriere aber sollte laut Plan weitere Höhepunkte erst noch erreichen. Gut, schlussendlich lag der Erscheinungstermin recht nah an Ullrichs Karriereende (2006), das aber lag wiederum an Umständen, die erst nach Buchveröffentlichung publik geworden sind.
2004 jedenfalls stand da noch nicht alles über Doping und schon gar nicht über andere Lebensunglücke, die Ullrich später noch ereilen sollten. Hinterher ist man halt immer schlauer. Um der Wahrheit über den Sportler Ullrich näher zu kommen, hätte man mit einer Biografie eben lieber noch ein bisschen gewartet.
Kommt eine Biografie hier nicht zu früh?
Nun hinkt der Allgemeinvergleich zwischen dem Sportler Jan Ullrich und dem Präsidenten Wolodimir Selenskij natürlich nicht nur, er ist gewissermaßen in voller Fahrt vom Rennrad gefallen und liegt mit gebrochenen Haxen in der Böschung. Gedopt ist der ukrainische Staatschef jedenfalls hoffentlich nicht. Die Eingangsfrage aber wird man auch im Falle Selenskijs wohl noch stellen dürfen, eher müssen.
Es erscheinen nämlich jetzt die ersten Selenskij-Biografien. Dabei ist der Mann ja gerade mal 44 Jahre alt, seit drei Jahren und damit erst eine Drei-Fünftel-Amtsperiode Präsident der Ukraine und mit seinem Land seit knapp sechs Monaten in einem Krieg befindlich, der noch Monate, wenn nicht Jahre dauern könnte.
Alles also eine Frage der Zeit. Die bedingt nun einerseits, dass man gerade jetzt ja erfahren will: Was ist das eigentlich für ein Typ, dieser khakibehemdete, zehntagebärtige Präsident? Andererseits: Ist es nicht eben ein bisschen früh für Biografien, weil Leben und Wirken des Wolodimir Selenskij gerade jetzt in vollem Gange sind?
Der Präsident guckt ernst von den Buchcovern
Beim ein oder anderen Verlag scheint man nun dem erstgenannten Argument den eindeutigen Vorrang vor dem vorgebrachten Einwand gegeben zu haben. Zur Anschauung also drei Werke, die gerade frisch auch der deutschen Leserschaft in die Eckbuchhandlung respektive in die Amazon-Vorschlagsliste gestellt worden sind. Verfasst haben sie der polnische Reporter Wojciech Rogacin, das französische Autorenduo Régis Genté/Stéphane Siohan und der ukrainische Journalist Sergii Rudenko. Erste Auffälligkeit: Von allen drei Covern guckt der Präsident sehr ernst und sehr nachdenklich wo hin, einmal nach links, einmal nach rechts, einmal geradewegs dem Betrachter ins Auge.
Auch inhaltlich gleicht sich einiges, was in der Natur der Sache liegt, wenn es um ein und dieselbe Person geht. Logisch, dass die Autoren nicht gänzlich unterschiedliche Dinge über Selenskij zu berichten wissen. Von vorn nach hinten also zunächst die wichtigsten Lebensstationen des Mannes: Geboren und aufgewachsen in Krywyj Rih, Südukraine, Arbeiterstadt, in den Achtzigern und Neunzigern ziemlich hartes Pflaster. Großgeworden übrigens mit Russisch als Mutter- und Umgangssprache, das Ukrainische nur in der Schule gelernt und erst spät verflüssigt. Erste Bühnenerfahrung in Theater- und Musikgruppen in der Schule, Jurastudium später eher so nebenbei, parallel schon Künstler- und Comedygruppe, aus der bald das Kollektiv Kvartal 95 wird, mit diesem immer größere Erfolge und Bekanntheit quasi im gesamten postsowjetischen Raum.
Von der Showikone zum Politiker
Hauptrolle dann in der Präsidentensatireserie "Diener des Volkes", in der er einen von Korruption und Misswirtschaft im Land schwer angenervten Geschichtslehrer spielt, den es eher durch Zufall in die Politik spült, wo er es dem Establishment aber mal so richtig zeigt. Der echte Selenskij 2019 beinahe in exakter Kopie seines Serienhelden dann tatsächlich Präsidentschaftskandidat, triumphaler Einzug ins Amt als absoluter Politiknovize, und nun schließlich der Krieg.
Bei ziemlich exakt dieser chronologischen Reihenfolge bleibt Wojciech Rogacin in seinem Werk, das konsequenterweise den Untertitel "Die Biografie" trägt. Darin ist viel zu erfahren vor allem über die mehr als zwanzigjährige Showkarriere des Wolodimir Selenskij. Rogacin schafft es tatsächlich, auch der eher ukrainefremden Leserschaft die Eigenheiten des örtlichen Showgeschäfts wirklich anschaulich zu machen.
Im "Klub der Lustigen und Schlagfertigen"
In der Detailtiefe erst versteht man ja, welch riesige Bedeutung schon der präpolitische Selenskij hatte. Wie er Ende der Neunziger durch das in der gesamten (Ex-)Sowjetwelt beliebte Format "Klub der Lustigen und Schlagfertigen" selbst bekannt wurde und sich zur Showikone nicht nur der Ukraine, sondern auch Russlands entwickelte. Genau diese Berühmtheit erklärt schließlich auch die Sogwirkung, die Selenskijs Präsidentschaftskandidatur bekam, die Hoffnungen, die 73 Prozent der ukrainischen Wähler in ihn steckten, als sie ihr Kreuz 2019 dann bei seinem Namen setzten. Wie Rogacin die Beliebt- und Berühmtheit des Showmans Selenskij beschreibt, kann man andererseits auch erahnen, warum sich der Mann den Riesenstress Präsidentenamt zugetraut und zugemutet hat. Eine gewisse Überzeugung von den eigenen Fähigkeiten wird da schon gewesen sein.
Auch Genté und Siohan beschreiben diesen Lebensweg, wenn auch nicht ganz so ausführlich wie Rogacin. Dafür mehr Fokus aufs Heute, auf den Kriegspräsidenten. Ihr Urteil über dessen Wirken wiederum ist schon zu erahnen am Untertitel ihrer Biografie: "Geburt eines Helden". Sie erzählen, wie Selenskij zwar einigermaßen unbedarft ins Amt kam, er sich aber bei seiner ersten Begegnung mit seinem russischen Counterpart Wladimir Putin bei Verhandlungen in Paris über den seit Jahren schwelenden Krieg in der Ostukraine unerwartet wacker geschlagen habe. Er sei dann, weil Mensch geblieben, sogar in den Donbass gefahren, um mit Soldaten Borschtsch zu essen - offenbar ein solcher Schlüsselmoment für die Autoren, dass sie die Anekdote mutmaßlich versehentlich gleich mehrfach erzählen.
Ein Reformer ohne Reformen
Was in diesem Heldenepos allerdings zu kurz bzw. gar nicht kommt: Es war in den drei Amtsjahren bis zum großen Krieg auch nicht alles Gold. Bei Weitem nicht. Selenskij war ja angetreten als großer Reformer, als Outsider, der wie sein Serienpräsident das Establishment vorführt, Korruption und Vetternwirtschaft besiegt, das Land zu einem fortschrittlichen macht und quasi im Vorbeigehen noch Wohlstand und Frieden bringt.
Es lassen sich allerdings genügend Indizien finden, um zu konstatieren: Nichts davon hat bisher geklappt. Wenigstens die Frage, ob ein Komiker und Schauspieler vielleicht doch nicht die ideale Besetzung für das oberste Amt im Staate ist, hätte man sich ja mal stellen können.
Zweifelhafte Verbindungen
Stattdessen stellt beispielsweise Rogacin Vorwürfe zu den Offshore-Geschäften des Herrn Selenskij, die im Zuge der Paradise-Paper-Recherchen unter anderem der Süddeutschen Zeitung bekannt wurden, sowie seine zweifelhaften Verbindungen zum Oligarchen Igor Kolomoiski einfach in eine Reihe mit tatsächlich absurden Spekulationen über eine Drogensucht. Nach dem Motto: alles Quatsch, was die Leute über diesen Kriegshelden unken!
Den wirklich schattigen Seiten Selenskijs räumt dagegen Sergii Rudenko sehr viel mehr Platz ein. Sein Buch, das in weiten Teilen schon 2021 entstanden und vom Autor im Lichte des Krieges überarbeitet worden ist, besteht praktisch nur daraus. Er beschreibt mit viel Mühe zum Beispiel, wie ahnungslos der frisch gewählte Präsident 2019 Putin in den Ostukraine-Verhandlungen gegenübergetreten ist.
Selenskijs Versprechen, unter ihm werde die Vetternwirtschaft enden, kontrastiert Rudenko fabelhaft schlicht mit einer Auflistung aller Namen derjenigen Bekannten und Freunde, die unter Selenskij in irgendeiner Form zu Amt und Würden in der Ukraine gekommen sind. Die Liste füllt zweieinhalb Buchseiten. Verwoben und eingeordnet sind all solche Anekdoten nicht, das Buch ist eher eine Sammlung der Unzulänglichkeiten des Präsidenten. Funktioniert aber.
Für deutsche Leser oft kaum verständlich
Schade nur, dass man sehr deutlich merkt, dieses Buch ist für ein ukrainisches Publikum geschrieben. Erklärungen zu manch handelnder Person und ihrer Bedeutung wären hilfreich für die deutsche Leserschaft, die logischerweise nicht so tief drinstecken kann in der Materie. Manches bleibt sogar gänzlich unverständlich, wenn man nicht zufällig kurz vorher schon zwei andere Selenskij-Biografien gelesen hat. Das ist weniger dem Autor als dem Verlag Hanser anzukreiden. Hätte man sich da etwas mehr Zeit zur Reflexion gegönnt, hätte auffallen können, dass die deutsche Bearbeitung doch etwas mehr Aufwand bedarf.
Auch den Werken von Rogacin und Genté/Siohan merkt man an, in welch irre kurzer Zeit sie entstanden bzw. auf den Markt geworfen worden sind. Besonders die Übersetzungen sind stellenweise sehr holprig geraten. Redaktionsschluss für alle drei Biografien war April, sprich zwei Monate nach Kriegsbeginn. Manche Weggefährten Selenskijs, über die man da liest, sind ihre Ämter in der Zwischenzeit schon wieder losgeworden, etwa die Generalstaatsanwältin oder der Geheimdienstchef. Es sind eben extrem bewegte Zeiten im Leben des Präsidenten Wolodimir Selenskij. Besser vielleicht, man publiziert und liest erst Biografien über ihn, wenn das Schlimmste überstanden ist.