Werkstatt Demokratie:"Das Durchwursteln, das ist zum Scheitern verurteilt"

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Ulrich Speck (links), 54, ist Außenpolitikexperte und Senior Visiting Fellow beim German Marshall Fund in Berlin. Manuel Müller, 34, ist wissenschaftlicher Referent der Geschäftsführung beim Institut für Europäische Politik, Berlin, und betreibt das Blog "Der (europäische) Föderalist". (Foto: Thomas Kirchner; Illustration Jessy Asmus)

Demokratische Strukturen schnell weiter ausbauen oder erstmal das Erreichte festigen - wie geht es weiter mit der EU? Ein Streitgespräch zwischen zwei Europa-Experten.

Von Thomas Kirchner, Berlin

Was den Zustand der Europäischen Union betrifft, herrscht Ernüchterung. Bürger haben den Eindruck, dass Brüssel auf undurchsichtige Weise in die nationale Politik hineinregiert. Die Mitgliedstaaten verfolgen ihre eigenen, oft sehr disparaten Interessen. Wie soll es weitergehen? Den Status quo konsolidieren? Oder die EU zu einer echten europäischen Demokratie fortentwickeln? Pragmatismus oder Vision? Darüber streiten die Europa-Experten Ulrich Speck und Manuel Müller.

Herr Müller, Sie sind einer der beharrlichsten Verfechter eines europäischen Föderalismus in Deutschland. Auf Ihrem Blog nennen Sie das Ziel: eine "vollständige überstaatliche Föderation, in der eine europäische Regierung dem Europäischen Parlament und das Europäische Parlament der europäischen Bürgerschaft verantwortlich ist". Warum hängen Sie so an dieser Idee?

Müller: Für mich ist die europäische Integration als Erstes ein Freiheitsprojekt, weil sie den Menschen Möglichkeiten eröffnet. Die Idee, dass nationale Grenzen einen weniger einschränken in der Lebensgestaltung, dass man in anderen Ländern leben kann. Dadurch entstehen aber auch gesellschaftliche Verflechtungen und ein Bedarf an gemeinsamen politischen Lösungen. Klassisch hat man die über die Diplomatie gesucht. Aber wenn die Verflechtungen zu groß sind und jeder Staat ein Veto behält, kommt es zu Blockaden, und die Probleme bleiben ungelöst. Schafft man aber das Veto ab, dann braucht man neue demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Bürger. Und das ist eben die europäische Idee: auf überstaatlicher Ebene demokratische Institutionen aufzubauen, mit dem EU-Parlament und der Kommission, die an das Parlament gekoppelt wurde. Dieser Aufbau ist noch nicht abgeschlossen, aber man ist weit gekommen.

Speck: Das ist eine schöne Vision. Aber sie hat politische Kosten. Wir sind jetzt in einem Zwischenstadium. Dinge werden an die europäische Ebene delegiert, ohne dass der Bürger wirklich weiß, was die Kommission genau macht, wofür genau das Parlament zuständig ist. Das sind nur rudimentäre Elemente einer staatsähnlichen Struktur bisher. Man sieht jetzt allerdings, dass man die Integration nicht mehr hinter dem Rücken der Bürger machen kann. Nach der Methode Monnet: Man implantiert eine Logik, die mit neuen Zwängen zu weiteren Einigungsschritten führt. Aber es gibt Widerstand, von rechts wie links, von Regierungen, aus der Realität: Mit vielen Krisen - Euro, Migration, Ukraine - kann die EU nicht umgehen, da sind dann wieder die Nationalstaaten gefragt. Politisch gibt es zudem keinen Willen, aus der EU die Vereinigten Staaten von Europa zu machen.

Es ist bezeichnend, dass das außer Martin Schulz kein prominenter Politiker mehr fordert. Die Grünen tendieren in diese Richtung, verwenden den Begriff aber auch nicht.

Müller: Viele Regierungen trauen sich das nicht mehr, eigentlich schon seit dem gescheiterten Verfassungsvertrag. In den Krisen der letzten Jahre haben der EU außerdem die Kompetenzen und Instrumente in wichtigen Bereichen gefehlt, um adäquat reagieren zu können. Es fiel auf die nationalen Regierungen zurück, die sich im Europäischen Rat als Retter zu inszenieren versuchten. Das Problem dabei: Umgekehrt hat niemand die kollektive Verantwortung getragen, wenn die Entscheidungen des Europäischen Rates Unzufriedenheit auslösten. Stattdessen wurden diese Entscheidungen für alternativlos erklärt, was den Eindruck einer von "Brüssel" aufgezwungenen, undemokratischen Politik erweckt hat. In diese Falle geraten wir immer wieder, solange wir die europäischen Institutionen nicht stärken. Dann wird der Europäische Rat weiterhin Lösungen erarbeiten, und niemand ist zufrieden, weil niemand den Eindruck hat, für diese Lösung gestimmt zu haben.

Werkstatt Demokratie, Was für die Vereinigten Staaten von Europa spricht - und was dagegen (Video: Süddeutsche Zeitung)

Viele Bürger hätten aber gerne eine Vision für die EU, das war ja das europäische Erfolgsgeheimnis: ein Ziel vor Augen zu haben. Müssen wir uns daran gewöhnen, dass die EU jetzt ziellos bleibt?

Speck: Es gab immer unterschiedliche Ziele, jedes Land hat sich seine eigene EU imaginiert. Die deutsche EU sieht ganz anders aus als die französische. Die Franzosen haben die EU immer auch als Instrument ihrer Außenpolitik gesehen. Die Italiener hatten großes Misstrauen ihrer eigenen Regierung gegenüber und wünschten sich etwas Überwölbendes, in das Italien eingebettet ist. Und die neu Dazugekommenen haben die Natur der Union verändert: Die Einigung unter den vielen ist schwerer geworden. Es reicht nicht mehr, wenn sich Deutschland und Frankreich einig sind. Das führt zu neuen Koalitionen unter den Mitgliedstaaten. Es gibt auch nur wenig Einigkeit bei der Frage, wozu die EU eigentlich da sein soll. Eine Vision, die alle 27 überwölbt, ist gar nicht mehr möglich.

Läuft das auf eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten hinaus?

Speck: Ich sehe einfach zwischen Nord und Süd, Ost und West, beim Euro oder beim Haushalt, bei der Frage, wie viel EU wir wollen, bei der Sicherheit, Verteidigung, nirgendwo eine gemeinsame Antwort. Vielmehr benutzen Staaten die EU stärker, um gewisse klar definierte Ziele zu verfolgen.

Wie sähe Ihre ideale EU aus, Herr Müller? Welche Politikbereiche würden europäisiert?

Müller: Darum geht es mir weniger als um die Frage, wie man abstimmt über die europäischen Bereiche. Nämlich mit dem EU-Parlament als zentraler Entscheidungsinstanz, sodass die Bürger ihre Vorstellungen bei der Europawahl in die Politik einbringen können. Dafür müssen die nationalen Regierungen an Macht verlieren - etwa indem in mehr Bereichen nicht länger einstimmig entschieden würde. Im Moment gilt das noch vor allem für Steuer-, Sozial-, Haushaltsfragen und die Außenpolitik. Da müssen wir über das Vetorecht hinwegkommen und stattdessen Parlament und Kommission stärken.

Speck: Das sind eben Kernbereiche der nationalen Souveränität. Nehmen wir Schengen: Die Binnengrenzen sind weg, aber es gibt keine Einigkeit darüber, wer unser Gebiet betreten darf. Für ein gemeinsames Asylrecht bräuchte es entweder einen Konsens - oder einen Mehrheitsbeschluss, und Polen und Ungarn müssten dann auch Quoten von Asylbewerbern aufnehmen. Das aber würde einen enormen Backlash in diesen Ländern auslösen. Da kommen wir derzeit nicht weiter. Auch in der Außenpolitik lassen sich die Großen ungern reinreden. Das angeblich integrationswillige Deutschland zieht Nord Stream 2, das Gaspipeline-Projekt mit Russland, ohne Rücksicht auf die Nachbarn durch. Frankreich betreibt seine Afrikapolitik ohne europäischen Konsens.

Es wäre gut, in der EU außenpolitisch besser zusammenzuarbeiten und häufiger gemeinsam zu agieren. Aber das ist nicht leicht. Sollen die Deutschen hinnehmen, dass der Bundestag nicht mehr über deutsche Auslandseinsätze entscheiden darf?

Speck: In Deutschland ist etwa das Thema Waffenexport mit Identitätsfragen beladen, schon seit Jahrzehnten. Da gab es immer wieder Skandale. Wir können das nicht einfach per Federstrich vergessen, zugunsten einer gemeinsamen Rüstungspolitik und einer engeren Kooperation mit den Franzosen oder Briten. Eine Mehrheitsentscheidung muss auf Akzeptanz stoßen. Und außenpolitische Fragen sind auch innerstaatlich sehr umstritten, siehe das Verhältnis zu Russland. Das Problem: Die großen Staaten können zwar effizient handeln, sie sprechen mit Washington oder Peking, aber ihnen fehlt die Legitimität, für Europa zu sprechen.

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Wir erleben eine Wiederkehr der Machtpolitik. Wenn wir Europäer wieder mehr selbst für unsere Sicherheit sorgen müssen, dann fällt das den Nationalstaaten zu, die in dem Bereich die Akteure sind. Die Großen müssen sich zusammensetzen und überlegen, wie die EU mit China, Libyen, Syrien oder Russland umgehen soll. Ich glaube nicht, dass hier die Führung von der EU-Kommission ausgehen kann.

An den Nationalstaaten führt also kein Weg vorbei?

Müller: Ich bin auch nicht glücklich mit der Idee, die Integration jetzt vor allem auf die Außenpolitik zu richten. Das ist ein Exekutivbereich. Man müsste dafür Kompetenzen direkt der Kommission übertragen, die zu wenig Legitimation hat, weil sie noch nicht dem Parlament verantwortlich ist. Außerdem geht es in den Debatten über eine EU-Außenpolitik derzeit vor allem um die Selbstbehauptung Europas in der Welt: Es soll eine EU geschaffen werden, die so einig ist, dass sie eine Großmacht unter Großmächten sein kann. Das steht aber im Widerspruch zum europäischen Gedanken, der gerade die klassische Außenpolitik durch den Aufbau gemeinsamer Institutionen überwinden will.

Speck: Die Logik der EU war ja, dass die Europäer glaubten, sich nach 1945 aus der Geschichte verabschiedet zu haben, die einen früher, die anderen später. Sie waren keine Gestaltungsmächte mehr. Es ging nur noch um den bipolaren Ost-West-Konflikt. Die EU wurde in diesem geschützten Raum geschaffen. Jetzt ziehen sich die Amerikaner schrittweise aus Europa zurück, die Amerikaner denken unsere Interessen nicht mehr mit, hören uns oft gar nicht mehr zu. Die internationale Lage ist härter geworden: Russland drängt, China hat aufgehört, sich in die Weltordnung zu integrieren und hat eigene Vorstellungen. Die USA sind rauer und robuster geworden. Wie können wir also gemeinsam handeln? Es gibt die Idee eines Europäischen Sicherheitsrates. Die Frage ist, ob und wie das in die EU integriert wird.

Müller: Es wäre jedenfalls ein Fehler, wenn die EU sich in der Welt wieder wie die Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts verhält. Die Versuchung ist da, weil es so viele Bedrohungen gibt, ein neues Wettrüsten, eine auf Konflikt ausgelegte globale Politik. Aber die EU hat gut daran getan, diese klassische Politik zu überwinden.

Speck: Die EU muss den Raum, in dem Integration möglich ist, auch schützen. Stichwort Cyber. Wir können nicht ignorieren, dass es Akteure gibt, die unsere Lebensart nicht gut finden. Und die freiheitliche europäische Ordnung muss auch mit Machtmitteln verteidigt werden. Dafür ist manchmal Abschreckung nötig. Siehe die Ukraine: Wenn sie Raum für Entwicklung erhalten soll, müssen wir den Russen signalisieren: Wir sind dagegen, dass ihr dieses Land wie einen Satelliten unterwerft. Das ist die neue europäische Frage: Können wir das? Machen wir das als Nationalstaaten, oder können wir da auch eine Gemeinschaftlichkeit finden, und welche Rolle spielt die EU dabei?

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Zurück zur Demokratisierung der EU. Reden wir über das System der Spitzenkandidaten. Es ist scheinbar ein Fortschritt. In Wahrheit ist die Bilanz zwiespältig. Zwar wird der Kommissionschef jetzt nicht mehr nur im Hinterzimmer ausgekungelt. Andererseits stehen die Parteien nicht uneingeschränkt hinter der Idee, sondern nur in dem Maße, wie es ihnen nützt. Und die Staats- und Regierungschefs sind weiterhin dagegen und machen im Zweifel, was sie wollen. Kann sich das System halten?

Müller: Aus meiner Sicht waren die Spitzenkandidaten ein sinnvoller Schritt. Sie haben den europäischen Parteien mehr Sichtbarkeit gegeben und damit die Bedeutung der Europawahlen erhöht. Aber der Prozess müsste weitergehen. Denn damit wäre nur ein einziges Mitglied der Kommission durch die Europawahlen legitimiert, alle anderen Kommissare werden weiterhin von den nationalen Regierungen gestellt. Das führt zu einer halben Politisierung der Kommission, das ist nichts Ganzes.

Speck: Ich bin nicht sicher, ob die Spitzenkandidaten-Idee zu einer Demokratisierung beiträgt. Das gaukelt eine Handlungsfreiheit oder eine politische Identität des Kommissionspräsidenten vor, die es nicht gibt. Spitzenkandidaten ergeben ja auch nur Sinn, wenn eine europäische Öffentlichkeit existiert. Meines Erachtens ist sie noch sehr stark national. Wenn überhaupt werden englischsprachige Medien von allen gemeinsam wahrgenommen, die Financial Times oder Politico. Wenn ich als Deutscher wissen will, was Frankreich bewegt, bin ich auf wenige Zeitungsberichte angewiesen. Es ist nicht so, dass ich unmittelbar Einsicht hätte über Politiker oder Parteien dort. Oder in Polen. Ich muss die Sprache sprechen, um die Medien nachvollziehen zu können. Solange wir nicht hineinschauen können in unsere Nachbarstaaten, ist eine Grundvoraussetzung von Demokratie nicht gegeben.

Wären transnationale Parteien eine Lösung?

Müller: Es gibt ja schon europäische Parteien, aber sie haben begrenzte Macht. Weil sie die Kommission nicht wählen, weil die Kandidatenlisten national sind. Würden diese Parteien gestärkt, wäre das das Vehikel, um die transnationale Meinungsbildung zu stärken, was sich wiederum auf die europäische Öffentlichkeit auswirkte.

Aber es hat sich schon viel getan. Durch die Krisen nehmen wir viel stärker wahr, was in den anderen Mitgliedstaaten politisch passiert.

Speck: Ich weiß nicht. Gerade wir Deutschen stehen wie der Ochs vor dem Berg angesichts dessen, was in Polen, Tschechien oder Ungarn passiert. Es gibt ja plausible Argumente, warum man etwa in Polen manche Dinge anders sieht. Das dringt aber nicht in unseren Diskurs. Wir sind sehr unserer nationalen Perspektive verhaftet. Oder Macron: In Deutschland wird er als Heilsbringer eines europäischen Föderalismus wahrgenommen, dabei steht er klar in der französischen Tradition, die EU als Maximierer der eigenen Interessen anzusehen. Er ist kein Idealist, sondern ein Realist, der die EU aus machtpolitischen Gründen stärken will. Wir sind nicht viel weiter gekommen in Richtung einer transnationalen Medienlandschaft.

Ist es richtig, von einer Schicksalswahl zu sprechen? Geht man damit nicht auch den EU-Feinden auf den Leim?

Speck: Sie sendet ein wichtiges Signal. Aber das EU-Parlament spielt nun einmal nicht die Schlüsselrolle im Brüsseler Machtgefüge, sondern die Mitgliedstaaten. Das Parlament ist ein verträglicher Mitgestalter. Ursprünglich war es gedacht als Pendant der nationalen Parlamente, hängt aber jetzt ein wenig im Trockenen, weil sich die Gesamtföderalisierung nicht durchgesetzt hat. Wir haben keine europäische Exekutive, Judikative, nur Elemente davon. Das Parlament ist am weitesten gekommen, aber ihm stehen nicht, wie im nationalen Rahmen, die anderen Pfeiler der Macht gegenüber. Deshalb ist das Parlament noch immer auf der Suche nach seiner eigentlichen Rolle. Schicksal wird dort nicht gespielt.

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Müller: Ich stimme zu, die unvollständige Föderalisierung gibt dem Parlament eine schwierige Position. Vor allem, weil der Konsenszwang so hoch ist. Damit ein Rechtsakt entsteht, muss immer Einverständnis mit den Mitgliedstaaten erzielt werden, was auch wegen der Vetorechte oft schwierig ist. Das führt dazu, dass Politik häufig nur in Form einer großen Koalition gemacht werden kann. Diese permanente große Koalition im Europäischen Parlament nimmt der Wahl ihre Bedeutung. Denn man weiß: Auch danach wird es so bleiben. Vielleicht werden die Christ- und Sozialdemokraten diesmal nicht mehr die Mehrheit haben, aber es ist abzusehen, dass sie die Liberalen ins Boot holen, womit sich die Zusammenarbeit der großen Mitteparteien fortsetzt. Eine Schicksalswahl wäre es, wenn die EU-Skeptiker und Rechtspopulisten in die Nähe einer Mehrheit kämen. Das wird nicht passieren, sie werden maximal ein Viertel der Sitze erreichen. Dann sind sie vielleicht laut, aber man wird sie regelmäßig überstimmen. Eine dramatische Veränderung der Politik ist nicht zu erwarten.

Ist es sinnvoll, den Erfolg dieser Wahlen an der Beteiligung abzulesen?

Müller: Sie ist keine Richtungsentscheidung wie bei den nationalen Wahlen, weil das Parlament nicht die Regierung wählt und dieser Gegensatz von Mehrheit und Opposition fehlt. Deshalb ist sie weniger spannend. Aber es lohnt sich trotzdem, wählen zu gehen, denn das Parlament entscheidet eben doch fast überall mit. Und manchmal sind die Mehrheiten ziemlich knapp, wie bei der Reform des Urheberrechts. Man hat also Einfluss mit seiner Stimme. Und natürlich führt eine höhere Wahlbeteiligung auch zu mehr Legitimität und stärkt das Parlament in Konflikten mit dem Rat.

Es ist aber auch eine Art Glaubensbekenntnis.

Müller: Na ja. Wenn man die Europapolitik näher verfolgt, nimmt man wahr, dass eine andere Politik herauskommt, wenn bestimmte Parteien stärker oder schwächer geworden sind. Aber die klaren Gegensätze, die man bei einem Blick in die Tagesschau erkennt - hier Bundeskanzlerin, da Oppositionschef -, die gibt es bei der Europawahl nicht. Deshalb ist es kein Wunder, wenn viele nicht verstehen, warum sie hingehen sollten.

Es wird ständig mehr Begeisterung für Europa eingefordert. Wirkt das nicht auch ein wenig hilflos, fast verzweifelt?

Speck: Europa war lange eine Utopie, eine Zukunftsvision. Wir haben permanent im Zustand des "noch nicht" gelebt. Die Zukunft war offen. Dann wurde der Verfassungsvertrag 2005 in Frankreich abgelehnt, und in der Folge nahm der föderalistische Traum großen Schaden. Früher zogen viele und einige bremsten, es ging zwei Schritte voran und einen zurück. Das ist jetzt nicht mehr so. Wir haben einen gewissen Endpunkt in der Integration erreicht. Es wäre ein massiver politischer Wille in den Mitgliedstaaten nötig, um weitere Politik-Bereiche zu europäisieren. Dieser Wille fehlt, einen großen Sprung nach vorn wird es wohl nicht mehr geben. Deshalb sollten die Pro-Europäer ihre Energie darauf richten, den jetzigen Stand der Integration zu konsolidieren, gerade in Zeiten des Brexit. Es ist schon ein Triumph, dass der Ausstieg der Briten nicht zu einem Auseinanderbrechen der EU geführt hat. Das EU-Parlament müsste nicht unbedingt den nationalen Parlamenten nachgebildet werden, es könnte auch andere Rollen spielen: etwa zu einem Diskursforum werden für die großen Debatten. Wenn es jetzt eine Vision gäbe, wäre es also eine pragmatische: wie bringt man das, was es schon gibt, zum Funktionieren?

Müller: Ich glaube, dieser Pragmatismus ist am Ende nicht pragmatisch, weil er nicht funktioniert. Das Zusammenwachsen der Europäer, das immer weitergehen wird, lässt sich auf Dauer nicht ohne eine europäische Demokratie legitimieren, eine Demokratie, in der das Parlament nicht nur diskutiert, sondern auch entscheidet und die Exekutive wählt. Denn nur dadurch erzeugt man das Gefühl bei den Bürgern, mitbestimmen zu können. Und Entscheidungen würden nicht länger als Resultat dubioser Zusammenarbeit von Technokraten und Diplomaten aufgefasst, letztlich als eine Art Fremdherrschaft, die der nationalen Politik übergestülpt wird. Von diesem Gefühl zehren ja die Europaskeptiker.

Das föderalistische Projekt ist noch nicht abgeschlossen, aber es bietet weiterhin die kohärenteste Vision. Das Durchwursteln, Status-quo-Bewahren, das ist zum Scheitern verurteilt, weil der jetzige Zustand instabil ist, weil er Widersprüche erzeugt, und weil man sich fragt, wie man als Bürger auf einfache Weise Einfluss auf die europäische Politik nehmen kann.

Was die Europa-Begeisterung betrifft: Die Politik verwendet sie auch als Instrument, um den Status quo zu rechtfertigen. Sicher, es gibt schon vieles Gutes an der EU, aber es ist gefährlich, so zu tun, als könnte die jetzige EU ein Endzustand sein.

Speck: Ich finde es wichtig, dass wir aus dem Gegensatz "pro- und anti-EU" herauskommen. Die EU ist eine Tatsache. Man kann eher föderalistisch oder pragmatisch darüber denken, beides ist legitim, darüber können wir diskutieren. Aber bitte nicht darüber, ob die EU an sich richtig oder falsch ist.

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