Werkstatt Demokratie:"Man bräuchte substanziellen Streit statt Gezänk um Kleinigkeiten"

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(Foto: dpa; Illustration Jessy Asmus)

Ausgetragene Konflikte sind wichtig für eine Gesellschaft, sagt Oliver Nachtwey. Der Sozialforscher erklärt anlässlich der SZ-Werkstatt Demokratie, wie sich Wut früher kanalisierte und woran die Volksparteien heute kranken.

Interview von Oliver Das Gupta

Oliver Nachtwey, Jahrgang 1975, ist Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaftler. Der Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel veröffentlichte 2016 das viel beachtete Buch " Die Abstiegsgesellschaft".

SZ: Herr Nachtwey, Sie sprechen in einem Aufsatz davon, dass die Ausrichtung der Volksparteien Union und SPD auf die politische Mitte die innenpolitische Unruhe mitverursacht hat. Wie konnte es soweit kommen?

Oliver Nachtwey: Unser politisches System war 60 Jahre erfolgreich auf die Mitte orientiert und hat dort große Integrationskräfte entwickelt. Aber diese Integrationskraft erodiert mit fortschreitender Dynamik. Ein "Extremismus der Mitte" der Volksparteien, ein wirtschafts- und gesellschaftsliberaler Konsens, hat inzwischen zu einer Polarisierung an den Rändern geführt. Nun versuchen die Volksparteien gegenwärtig wieder, ihre Profile zu schärfen. Bisher kann man jedoch keine Re-Ideologisierung erkennen, sondern es werden pragmatisch die Kanten für den kommenden Wahlkampf getrimmt. Denn beide wissen, dass ihr mittelfristiges Überleben davon abhängt, eher früh als spät Alternativen zur großen Koalition zu finden.

Von Konsens ist in der Tagespolitik gar nicht so viel zu spüren. Gerade in der aktuellen großen Koalition, aber auch zwischen CDU und CSU, hat es im letzten Jahr mächtig gekracht. Streiten die Demokraten zu viel?

Im Gegenteil. Man bräuchte viel mehr Streit - aber substanziellen Streit statt Gezänk um Kleinigkeiten. Niemand streitet beispielsweise mehr darüber, ob die soziale Marktwirtschaft eine gute Sache ist. Viele haben die Vorstellung, dass Konflikte etwas Schädliches seien, ich sehe das genau anders. Der Soziologe Ralf Dahrendorf wies schon darauf hin, dass Konflikte etwas sehr Sinnvolles für demokratische Gesellschaften bedeuten: Konflikt erlaubt, Interessen zu artikulieren, zum Teil werden erst über Konflikte Kompromisse und damit Integration gefunden.

Fällt unter diese Sorte von sinnvollen Konflikten auch der Streit zwischen Innenminister Horst Seehofer mit Kanzlerin Angela Merkel um Zurückweisungen von Flüchtlingen an der bayerischen Grenze? Dieser Streit sprengte 2018 beinahe die Unionsgemeinschaft und hat in der Bevölkerung große Emotionen ausgelöst.

Dieser Konflikt war bizarr und vielsagend, da man ja da bereits eine Kompromisslinie in der Koalition gefunden hatte. Aber Horst Seehofer hat den bayerischen Wahlkampf und seine persönliche Kränkung durch Merkel genutzt, um die die deutsche Politik in eine kurze, aber heftige Krise zu stürzen. Insgesamt gilt aber: Heute sind sich die Parteien der Mitte über das Wesentliche einig. In den früheren Jahrzehnten ging es ziemlich zur Sache, Politiker wie Franz Josef Strauß, Herbert Wehner und Heiner Geißler haben ordentlich zugelangt, weil es ihnen um politische Welthaltungen und um Vorstellungen gesellschaftlicher Ordnung ging. Der Unterschied zu heute ist das, was Sigmund Freud den "Narzissmus der kleinen Differenzen" genannt hat: Es wird heute umso kräftiger zugepackt, je kleiner die tatsächliche inhaltliche Differenz ist. Solcher Streit kommt dann in der Bevölkerung nurmehr als zänkisch und kleinkariert rüber.

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Politische Meinungsbildung findet inzwischen verstärkt digital statt. Hilft die immer vielfältigere und schnellere Kommunikation dem Austausch zwischen Politikern und Bevölkerung und der Gesellschaft generell?

Nicht unbedingt. Die Digitalisierung bedeutet nicht immer Dialog, sondern häufig das Megaphon: Man schreit, manchmal wird zurückgeschrien. Eine Form, in der man gemeinsam überlegt und handelt, das findet dort nicht statt. Es reicht nicht aus, einen Tweet weiterzuleiten oder einen Facebook-Post ins Internet zu setzen. Politische Identitätsbildung hatte in der Vergangenheit auch immer eine praktische und lebensweltliche Dimension. In diesen Lebenswelten gab es Ressourcen, aber auch Regeln, um einen Dialog zu finden. Und zu diesen Lebenswelten gehörten eben die Volksparteien CDU/CSU und SPD.

Wie lief denn diese politische Sozialisation früher ab?

Parteien, aber auch Gewerkschaften und Vereine haben Zugehörigkeit und Identität vermittelt, sie haben Gemeinschaft geschaffen. Man hat sich in Kneipen, auf Festen oder Versammlungen getroffen, hat Bier getrunken, eine Wurst gegessen und konnte diskutieren und sich austauschen. Auf diese Weise wurde politische Identität geschaffen. Diese politische Identität hat Stabilität geschaffen, aber auch geholfen, den Horizont zu erweitern. Das ist bei den Volksparteien mehr und mehr verloren gegangen. In diese Lücke der politischen Identitätslosigkeit stößt die AfD. Die Partei macht ein chauvinistisches Identitätsangebot, das ich für gefährlich halte, aber es kommt bei vielen Menschen trotzdem an.

Unzufriedenheit, Frust und Wut gab es ja schon früher. Wie wurden Emotionen denn in der Vergangenheit kanalisiert und artikuliert?

In Parteien gab es im analogen Zeitalter Kanäle, in denen diese Unzufriedenheit von unten nach oben getragen wurde. Der Kassierer war dabei eine der wichtigsten Personen. Der ging bei den Leuten vorbei und hat den kleinen Kleber vorbeigebracht, der für Bindung sorgte. Das war ein stressiger Job, da musste man viel Kuchen essen und viele Schnäpse trinken und sich die Wut der Unzufriedenen anhören.

Müsste die Gesellschaft also wieder ein Stückweit analoger werden, um auch ohne Parteien konstruktiver streiten zu können?

Vielleicht nicht analoger, aber wieder partizipativer. Damit meine ich nicht, dass die Leute wie bei der SPD über den Koalitionsvertrag abstimmen können. Hier ist die Demokratie ja eher simuliert, da die Parteiführung die Basis wenig subtil erpresst und vor allem eine interne Legitimation erreichen will. Es bräuchte vermehrt Kanäle, durch die man seine Sorgen und Leidenschaften artikulieren könnte - alle Arten von Versammlungen, bei denen der Ausgang offen ist. Die Gelbwesten haben sich in Frankreich zunächst auf den Inseln in der Mitte der Kreisverkehre getroffen, das war ihre Form der Versammlung.

Herr Nachtwey, im Bundestag sitzen inzwischen sechs Fraktionen. Ist die fortlaufende Fragmentierung der Parteienlandschaft und der Gesellschaft nicht auch ein Ausdruck von Pluralität?

Diese Pluralität gab es ja auch schon früher. Sie war aber in den Volksparteien Union und SPD aufgehoben, deshalb gab es ja auch über Jahrzehnte in der Bundesrepublik ein Zweieinhalb-Parteiensystem, in dem sich die meisten Menschen bei Union und der SPD zu Hause fühlten, und ein paar in der FDP. Es gab nicht nur in der SPD, sondern auch in der FDP einen linken Flügel. Die Erweiterung der Parteienlandschaft um die Grünen und die heutige Linke war ein durchaus positiver Prozess, weil dadurch auch die verschiedenen Interessen der Gesellschaft abgebildet wurden.

Diesen Prozess sehen Sie inzwischen nicht mehr positiv?

Inzwischen gibt es eine Partei mit dem Potential, die parlamentarische Demokratie zu verneinen und extreme Positionen zu normalisieren: die AfD. Dort sammeln sich Leute, die in den vergangenen 20 Jahren den Volksparteien den Rücken gekehrt haben, die sich selbst als Rebellen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung sehen und entsprechend agieren. Diese Dynamik ist durchaus bedrohlich. Zwar bildet die AfD durchaus ein Segment in der Bevölkerung ab, aber sie integriert sie nicht in die Demokratie, sondern radikalisiert sie gegen sie.

Wie tickten diese "Rebellen" politisch, bevor die AfD gegründet wurde?

Wir haben für eine Untersuchung ausführlicher mit einigen AfD-Anhängern geredet, mal dauerten die Gespräche 90 Minuten, mal drei Stunden. Die haben früher fast alle die Volksparteien gewählt. Heute fühlen sie sich von Union und SPD entfremdet und erklären, dass sie nur die AfD als Chance sehen, das "System" aufzurütteln. Fast alle Gesprächspartner erwähnten übrigens Helmut Schmidt als positives Beispiel. Der war ja SPD-Kanzler, aber verkörperte auch eine rechtstaatliche Härte.

Warum hat der rechte Rand derzeit so großen Zulauf?

Diese Gelegenheitsstruktur speist sich aus zwei Quellen: Der Unzufriedenheit mit dem politischen System als Ganzem. Die AfD kann diese bisherigen Nichtwähler aktivieren, sie dient als Ventil. Anfang der Nullerjahre hatte die Linke diese Funktion, inzwischen hat sie den Nimbus der Anti-Establishment-Partei weitgehend verloren. Das zweite ist, dass sich die Union so stark zur Mitte hin modernisiert hat, dass sich rechts eine Flanke aufgetan hat.

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Können CDU und CSU mit einem Rechtsschwenk diese Wähler wieder zurückholen?

Das bezweifle ich. Die Union hat sich aus guten Gründen modernisiert. Ein relevanter Teil ihrer Wähler, Anhänger und Funktionäre hat modernisiert, ist liberaler geworden. Dieser Prozess lässt sich nicht wieder rückgängig machen, er gleicht einer Bettdecke, die zu kurz ist, wie man gut bei der Bayern-Wahl sehen konnte. Indem CSU-Größen wie Markus Söder und Alexander Dobrindt mit rechtspopulistischer Rhetorik mobilisieren wollten, vergrätzten sie Teile der Mitte - in diesem Fall wanderten sie zu den Grünen.

Und die AfD kam trotzdem mit mehr als zehn Prozent in den Bayerischen Landtag.

Das Bedrohliche an der Entwicklung ist, dass das Verhältnis von demokratischer Regierung und demokratischer Opposition nicht mehr klar ist. Diese klare Unterscheidung war sehr wichtig für die demokratische Integration. In der aktuellen Situation haben wir eine immer kleiner werdende GroKo, in der die Funktion der Opposition verschwindet. In dieser Fragmentierung droht eine Partei wie die AfD eine besondere Rolle zu gelangen.

Wann hat die Unterscheidbarkeit der GroKo-Parteien signifikant nachgelassen, kam das mit Gerhard Schröders Agenda-Politik?

Das begann schon deutlich vorher. Die SPD hatte sich in den Nachkriegsjahrzehnten zwar mit der sozialen Marktwirtschaft arrangiert, aber diese nicht propagiert. Sie wollte nach wie vor Eingriffe in den Markt, sang die Melodie vom demokratischen Sozialismus aber immer leiser. Das änderte sich in den Neunzigerjahren, als im Wahlprogramm von Rudolf Scharping plötzlich explizit die soziale Marktwirtschaft auftauchte. Die lange und immer wieder versprochene Erneuerung und Profilbildung tritt auf der Stelle.

Nun will die SPD Hartz IV abschaffen. Das schafft doch Kontur, oder?

Nicht automatisch. Der SPD ist etwas Interessantes gelungen: sich von der Agenda 2010 zu verabschieden, ohne sie hinter sich zu lassen. Die Frist ist länger geworden, doch am Ende wird trotzdem das Schonvermögen angegriffen, bleiben die Sanktionen und der unwürdige niedrige Grundbetrag. Es braucht aber nicht nur Kontur, sondern sozusagen Figur: Die gleichen Personen, die die Agenda 2010 jetzt 15 Jahre verteidigt haben, wollen sich jetzt davon lösen. Ohne personelle Erneuerung wird es aber nicht klappen.

Gäbe es andere Themen für die SPD, mit denen sie punkten könnte?

Klar, zum Beispiel die Bahn. Die Privatisierung hat ja nichts zum Besseren gewendet, sie hat zu einer massiven Unterfinanzierung geführt. Die Bahn agiert eben nicht mehr kundenorientiert, sondern profitorientiert. So viele Menschen sind in Deutschland von der Bahn-Misere betroffen, allein schon die Zigtausenden Pendler. Warum also stellen sich Sozialdemokraten und Linke nicht mit Infoständen in die Bahnhöfe und werben dafür, die Bahn wieder zu verstaatlichen und entsprechend zu investieren? Über das Für und Wider ließe sich gut streiten. Kontrovers streiten. Aber das wäre dann etwas anderes als ein Debattencamp, bei dem vor allem die hippe Form hervorgehoben wird.

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