Das Mädchen lag im Bett und fror. Die Wände waren mit Reif bedeckt, der Boden mit einer Eisschicht überzogen, in den Fenstern fehlten die Scheiben. Eine Bombe hatte ein Loch in die Decke gerissen und ließ die Kälte herein. Die Fünfjährige war allein. Ihre Mutter war arbeiten, der Vater im Krieg, die anderen Hausbewohner gestorben.
Die Mutter hatte alle Decken über die Tochter geworfen, Laken, Lumpen, alles was sie finden konnte, bevor sie zu ihrer Nachtschicht in die Kartonagenfabrik gegangen war. Das Radio lief ständig. Meist schlief das Mädchen zu russischen Opernarien ein. Wenn der Bombenalarm die Gesänge übertönte, blieb sie liegen. Zu anstrengend war der Weg fünf Stockwerke hinab in den Keller.
So erzählt es die Russin Diana Medvedeva heute, fast 75 Jahre später. Sie ist eine der Zeitzeugen, die noch vom Kriegswinter 1941/42 in Leningrad berichten können. Keine zweieinhalb Monate, nachdem die Wehrmacht in Russland einmarschiert war und Hitlers Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion begonnen hatte, umzingelten die Deutschen am 8. September 1941 Leningrad, das heutige St. Petersburg.
Zeitzeugin Diana Medvedeva
(Foto: Veronika Wulf)Die Stadtbewohner waren abgeschnitten vom Rest des Landes, sie hatten weder Strom noch ausreichend Nahrung. Ziel des sogenannten Hungerplans der Nationalsozialisten war es, die Menschen in der Stadt gezielt krepieren zu lassen. Bis zum 27. Januar 1944 dauerte die Leningrader Blockade, 900 Tage, in denen mehr als eine Million Menschen auf elende Weise ums Leben kamen - verhungert, erfroren, von Bomben getötet.
In den vergangenen Jahrzehnten war es selbstverständlich, Eltern oder Großeltern zu haben, die aus dem Krieg erzählen konnten. Diese Zeit geht zu Ende. Die Geschichtsvermittlung wird dadurch eine andere. "Das Unmittelbare geht verloren", sagt Andrea Riedle, stellvertretende Leiterin der KZ-Gedenkstätte Dachau, "die menschliche Dimension der Verbrechen, die durch Zeitzeugen deutlich wird." Die wenigen, die noch leben, sind über 80, oft über 90 Jahre alt. Diana Medvedeva ist 81. Sie war gerade fünf Jahre alt geworden, als die Wehrmacht ihre Heimatstadt Leningrad abriegelte.
Sie lebt heute in Deutschland. Als ihr Mann die Tür ihrer Kölner Wohnung öffnet, läuft im Hintergrund eine russische Oper im Fernsehen. Normalerweise ist er es, der erzählt. Evgeny Karchemnik, 77, ist stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbands der Veteranen, Ghetto- und KZ-Gefangenen sowie der Überlebenden der Leningrader Blockade.
Er weiß historische Daten, Zahlen und Ereignisse auswendig, intensiv hat er sich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, organisiert Ausstellungen und hält Vorträge. An die Leningrader Blockade erinnert er sich aber nicht mehr, er war erst ein Jahr alt, als sie begann. Er ist der mit dem Wissen, seine Frau ist die mit den Erinnerungen.
Medvedeva setzt sich zögernd zu dem Besuch an den Tisch, schüchtern streicht sie die Tischdecke glatt. Dann beginnt sie zu erzählen. Wie die Nachbarhäuser in Leningrad alle zerbombt wurden, nur das Haus, in dem sie wohnten, stand bis zuletzt. Wie sie die Leimblöcke aus der Schreinerwerkstatt des Vaters, die aus Knochen und Fischgräten hergestellt waren, Stück für Stück zu Suppe auskochten. Wie ein Mann ihrer Mutter auf der Straße die kleine Handtasche mit den Brotkarten entreißen wollte, es aber nicht schaffte, so schwach war er vor Hunger.
Der Hunger ließ die Muskeln zurückbilden
Medvedeva weiß noch genau, wie sie die Brotrationen, die sie in der Bäckerei abholte, auf das Gramm genau abwogen. Um auf 125 Gramm zu kommen, legte die Bäckerin einzelne Krümel dazu. "Das waren dann meine", sagt Medvedeva und schließt die Augen, als ließe sie sich ein Stück Schokolade auf der Zunge zergehen. Heute hat sie runde Wangen und kräftiges, schlohweißes Haar. Während der Blockade zeichneten sich ihre Knochen spitz unter der Haut ab, ihre Muskeln bildeten sich zurück, sie litt unter Dystrophie.
Täglich gingen Freiwillige durch die Häuser und nahmen die Toten mit. Manche Leute warfen die Leichen einfach auf die Straße, sagt Medvedeva. Deutsche Fliegerbomben und Granaten der schweren Artillerie hatten die Getreidevorräte in Brand gesetzt und die täglichen Essensrationen, die jedem zustanden, wurden immer weiter gekürzt. Bald gab es keine Katzen mehr in Leningrad. "Unsere wurde gleich geschnappt und verspeist", sagt Medvedeva. Dann kamen die Ratten.
Medvedeva erinnert sich, wie ihre Großmutter tot auf dem Bett lag, nachdem ein Bombenangriff ihr Herz zum Stillstand gebracht hatte. Eine Ratte kletterte an ihrem langen Zopf hinauf, der von den Kissen bis zum Boden reichte.
Es sind Erinnerungen, die in keinem Geschichtsbuch stehen. Geschichten, die mit dem Tod der Zeitzeugen verschwinden, wenn sie vorher nicht aufgeschrieben oder aufgenommen werden.
Wortlos steht Medvedeva auf und holt aus dem Nebenzimmer eine metallene Erkennungsmarke, die man aufklappen kann. Darin liegt ein vergilbter Zettel, in schräger Tintenschrift geschrieben: "Sagt meiner Frau und meiner Tochter, ich bin gefallen, indem ich für sie gekämpft habe." Im September 1941, drei Monate nach Kriegsbeginn, hatte Medvedevas Mutter die Mitteilung bekommen, ihr Mann sei verschollen.
Medvedeva erinnert sich kaum an ihn. Drei Jahre später trat ein russischer Offizier an seine Stelle, der die Mutter mit Brot versorgte. Auf dem Boden der eisigen Wohnung gebar sie einen Jungen von ihm. Medvedeva mochte den Mann mit dem dicken Fellmantel. "Der Mantel war so warm", sagt sie. Ein Jahr später fiel auch der Offizier.
Das Ehepaar Medvedeva und Karchemnik ist wegen seiner Söhne nach Deutschland gezogen. Ganz wohl ist Karchemnik nicht bei dem Gedanken, dass er im gleichen Land lebt wie frühere Wehrmachtssoldaten. Er hasst sie nicht. "Aber die Veteranen in Russland fristen in unglaublicher Armut ihren Lebensabend", sagt er. "Und ihre ehemaligen Gegner sind hier geehrte Bürger und führen ein gutes Leben."