Die meisten Türkei-Kenner gingen bis kurz vor der Wahl davon aus, dass sich die Ergebnisse vom Juni diesen Jahres wiederholen würden. Auch viele Umfragen deuteten darauf hin. Damals hatte die Regierungspartei zum ersten Mal seit 2002 die absolute Mehrheit verfehlt.
Dafür hatte die prokurdische HDP im Juni mit 13 Prozent einen Überraschungserfolg gefeiert. Präsident Erdoğan und die regierende AKP sahen sich gezwungen, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Doch Erdoğan, so der Vorwurf seiner Gegner, wollte die Macht nicht teilen: Nach langen Wochen der Unsicherheit habe er die Koalitionsverhandlungen absichtlich scheitern lassen. Danach kündigte der Präsident Neuwahlen an und sprach davon, die Wähler könnten ihren "Fehler" nun korrigieren.
Nach der Juni-Wahl flammte außerdem der Konflikt mit der kurdischen PKK wieder auf, nachdem bis in den Sommer noch ein Frieden greifbar schien. Fast täglich bombardierte das türkische Militär PKK-Stellungen, außerdem griff man die kurdischen Kämpfer in Syrien an, die dort der Terrormiliz IS trotzten. Die PKK tötete etliche Sicherheitskräfte.
Die Gewalt könnte Erdoğan genutzt haben. Weil es ihm gelang, die Schuld dafür allein den Kurden zuzuschieben. Immer wieder rückte er die Kurdenpartei HDP in die Nähe der PKK, obwohl diese sich von der Gewalt distanzierte.
Nun scheinen viele Türken vor allem eins zu wollen: Eine Rückkehr zu mehr Sicherheit im Land. Erdoğan hat es geschafft, sich selbst als Garant dafür zu profilieren. "Der AKP ist es gelungen, die Wähler davon zu überzeugen, dass es im besten Interesse der Türkei ist, zu einer Einparteienregierung zurückzukehren", sagt auch der Türkei-Experte Aaron Stein vom Atlantic Council in Washington.
Ein weiterer Grund dürfte dazu beigetragen haben, dass Erdoğan nun wieder alleine regieren kann: Die nationalistische MHP und die prokurdische HDP hatten eine Koalition mit der AKP gleich nach der Wahl strikt ausgeschlossen. Mit der kemalistischen CHP gab es zwar Verhandlungen, doch diese scheiterten. Gleichzeitig konnten sich die drei Oppositionsparteien auch untereinander nicht zu Gesprächen durchringen. Zu groß waren die weltanschaulichen Differenzen. Mit dem jetzigen Ergebnis haben die Wähler womöglich auch diese Inflexibilität abgestraft.
Waren die Wahlen fair?
Andreas Gross, Präsident der Ad-hoc-Kommission des Europarates zur Wahlbeobachtung in der Türkei, bringt die Antwort auf eine griffige Formel: Frei ja, fair nein. Zwar sei die Abstimmung in dem Sinne frei gewesen, dass die Menschen zwischen verschiedenen Parteien hätten wählen können, sagte der Schweizer Sozialdemokrat zu Deutschlandradio Kultur. Von "Fairness" könne aber nicht die Rede sein. Zu groß seien die Repressalien gegenüber der Opposition gewesen, zu drastisch die Maßnahmen, mit denen Präsident Erdoğan und seine AKP die kritischen Medien des Landes auf Linie brachten.
Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisierte die Gewalt im Wahlkampf.
Der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, sagte am Sonntagabend, von einer gleichberechtigten Wahl könne keine Rede sein. Wegen der Angriffe und Anschläge auf die HDP habe die Partei keinen Wahlkampf führen können. Er kritisierte die "Massakerpolitik" der politischen Führung in Ankara.
Immer wieder waren während der vergangenen Monate HDP-Büros in Flammen aufgegangen. Nach zwei Attentaten in Suruç und Ankara, bei denen viele HDP-Anhänger ums Leben kamen, traute sich die Partei nicht mehr, überhaupt noch politische Kundgebungen zu veranstalten.
Hinzu kommt die erhebliche Einschüchterung der regierungskritischen Presse. Vier Tage vor der Wahl stürmten türkische Sicherheitskräfte die Redaktionsräume der türkischen Mediengruppe Koza İpek. Am vergangenen Freitag waren deren Publikationen dann stramm auf Linie: Die Zeitung Bugün erschien mit einem staatstragenden Foto von Erdoğan auf der Titelseite. Die Millet zeigte Premierminister Davutoğlu, der weiße Tauben mit einer "brüderlichen Botschaft" in den Himmel steigen ließ.
Auch wenn die AKP bei der Wahl nicht betrogen hat, sind doch die Umstände, die dieses Ergebnis hervorgebracht haben, fragwürdig.