Massaker im Ersten Weltkrieg:Biden spricht als erster US-Präsident von "Völkermord" an den Armeniern

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Bezeichnet das Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg als "Völkermord": US-Präsident Joe Biden. (Foto: Jonathan Ernst/Reuters)

Mit seiner Aussage löst er an einem symbolträchtigen Tag ein Versprechen ein. Die türkische Regierung ist empört.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Trotz ausdrücklicher Warnungen der Türkei hat US-Präsident Joe Biden die Massaker an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges als Völkermord anerkannt. "Das amerikanische Volk ehrt all jene Armenier, die in dem Völkermord, der heute vor 106 Jahren begann, umgekommen sind", hieß es in einer am Samstag vom Weißen Haus verbreiteten Mitteilung Bidens zum Gedenktag an die Massaker.

Biden Erklärung löste in der Türkei im Regierungslager heftige Empörung aus: Präsident Recep Tayyip Erdoğan, Außenminister Mevlüt Cavuşoğlu und andere führende Politiker und Parlamentarier wiesen die Einstufung der Armeniermassaker als Genozid zurück. Erdoğans Außenminister sprach von "Populismus". Er sagte: "Die Türkei braucht niemandes Belehrungen über unsere eigene Geschichte." Ein Regierungssprecher sagte, Washington habe sich dem Druck einer "radikalen armenischen Lobby" gebeugt und verzerre "die historischen Tatsachen".

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Die Opposition in der Türkei hat noch nicht reagiert, aber auch von Seiten der säkular-nationalistischen Oppositionsparteien CHP und Fyi ist mit Empörung und Zurückweisung zu rechnen. Auch bei weiten Teilen der Bevölkerung dürfte es zornige Reaktionen geben.

Der Tod von 1,5 Millionen Armeniern, die im multiethnischen Osmanischen Reich Untertanen des Sultans waren, gehört zu den absoluten Tabuthemen in der Republik Türkei. Während des Ersten Weltkriegs waren Armenier systematisch verfolgt und unter anderem auf Todesmärsche in die syrische Wüste geschickt worden. Historiker sprechen von Hunderttausenden bis zu 1,5 Millionen Opfern.

Die Klassifizierung als Genozid dürfte das ohnehin stark strapazierte amerikanisch-türkische Verhältnis massiv belasten

Die Türkei als Nachfolgerin des Osmanischen Reiches gesteht den Tod von 300 000 bis 500 000 Armeniern während des Ersten Weltkrieges zwar ein und bedauert die Massaker. Eine Einstufung als Völkermord weist sie jedoch strikt zurück. Die offizielle türkische Geschichtsauslegung behauptet, die Armenier hätten sich in großer Zahl mit dem russischen Zarenreich gegen den Sultan verbündet und so das Osmanische Reich an den Kriegsgegner verraten. Deshalb habe man die Armenier umsiedeln und deportieren müssen. Gleichzeitig hätten armenische Untergrundkämpfer Muslime in großer Zahl getötet. Das Ganze sei eine historische "Tragödie" sowohl für die türkische als auch für die armenische Bevölkerung gewesen.

Die historischen Ereignisse werden international inzwischen aber von den meisten Historikern klar als "Völkermord" betrachtet. Die Klassifizierung als Genozid durch den US-Präsidenten dürfte nun das ohnehin stark strapazierte amerikanisch-türkische Verhältnis massiv belasten. Im Wahlkampf hatte Biden eine Anerkennung der Massaker an den Armeniern als Völkermord versprochen. Die Regierung in Ankara hatte die US-Regierung vor einem solchen Schritt gewarnt.

Bereits 2019 hatte der US-Kongress die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord anerkannt. Die Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump betonte anschließend, die rechtlich nicht bindende Resolution ändere nichts an der Haltung der US-Regierung. Biden-Vorgänger Trump hatte "von einer der schlimmsten Massen-Gräueltaten des 20. Jahrhunderts" gesprochen, das Wort Völkermord aber - wie andere US-Präsidenten zuvor auch - vermieden.

In Deutschland hatte der Bundestag im Jahr 2016 mit großer Mehrheit eine Armenien-Resolution verabschiedet, die die Gräueltaten als Völkermord einstufte. Fast alle Abgeordneten stimmten dafür. Die türkische Regierung hatte diese Resolution scharf kritisiert. Der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert sagte nach der Abstimmung, die aktuelle Regierung in der Türkei sei zwar nicht verantwortlich für die Ereignisse während des Ersten Weltkriegs. "Aber sie ist mitverantwortlich für das, was in Zukunft daraus wird."

Mit Material der dpa.

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