Mit elf Minuten Verspätung treffen Angela Merkel und Horst Seehofer im Saal der Unionsfraktion ein. Man kann mit Fug und Recht behaupten: Sie wurden noch nicht vermisst. Denn so eine konstituierende Sitzung ist ja erst einmal ein großes Wiedersehensfest wiedergewählter Abgeordneter. Ein paar Neulinge sind auch dabei. Die Damen und Herren Parlamentarier gratulieren sich gegenseitig, vergleichen ihre Ergebnisse in den Wahlkreisen, die diesmal nicht so toll sind. Aber, sagt einer, "unter den obwaltenden Umständen muss man zufrieden sein". Die obwaltenden Umstände lassen sich in Zahlen fassen: Nur noch 32,9 Prozent für die Union. Trotz des aufgeblähten Bundestags haben CDU und CSU zusammen 65 Sitze weniger gewonnen als beim letzten Mal.
Angela Merkel und Horst Seehofer kommen zusammen in den Saal, vor vier Jahren haben sie hier ihren ersten gemeinsamen öffentlichen Auftritt nach der Wahl noch kamerawirksam inszeniert. Da ließ Seehofer der Kanzlerin eine Umarmung angedeihen, die so innig war, dass man sich unwillkürlich fragte: Ist es doch Liebe? Diesmal sind beide sehr damit beschäftigt, Hände anderer Leute zu schütteln, wenn es sein muss auch Rücken an Rücken. Die obwaltenden Umstände verbieten Liebkosungen wie 2013. Vor allem Seehofer kann sich zu große Nähe zur Kanzlerin nicht erlauben - zumindest dann nicht, wenn Kameras in der Nähe sind.
Es ist nicht die erste Begegnung der beiden an diesem Tag. Merkel und Seehofer hatten sich - ohne Kameras - zuvor schon im Kanzleramt getroffen, um die Marschrichtung bei den anstehenden Sondierungsgesprächen zu besprechen. Die CDU-Chefin sagte Seehofer dabei offenbar zu, erst eine gemeinsame Linie mit der CSU finden zu wollen, bevor man in die Sondierungsgespräche mit Grünen und FDP geht. Er habe das Kanzleramt "zufrieden" verlassen, sagt Seehofer jedenfalls. Und er habe "die ganz große Zuversicht im Herzen", dass CDU und CSU zu einer "geschlossenen Haltung" finden werden.
CSU nach der Wahl:Es ist angerichtet
Horst Seehofer weiß, wie man Parteifreunde abserviert: Die CSU pflegt da eine große Tradition. Einige stehen jetzt demonstrativ hinter ihm, andere sind einfach sehr, sehr still.
In der Sitzung der Unionsfraktion zeigt sich dann, dass es bei vielen Abgeordneten mit der Zufriedenheit nicht so weit her ist. Obwohl Merkel und Seehofer gemeinsam vorschlagen, Volker Kauder als Fraktionschef wiederzuwählen, verweigern ihm 59 Abgeordnete die Unterstützung. Kauder erhält nur 180 Stimmen, 53 Abgeordnete stimmen mit nein, sechs enthalten sich. Statt 97 Prozent wie vor vier Jahren unterstützen diesmal lediglich 75 Prozent den Fraktionschef. Dabei gibt es noch nicht einmal einen Gegenkandidaten.
Das Ergebnis ist eine Klatsche für Kauder und indirekt auch für Merkel - Kauder gilt als ihr verlängerter Arm an der Fraktionsspitze. Ganz offensichtlich gibt es in der Fraktion einen Wunsch nach Veränderung - Kauder ist noch länger im Amt als Merkel Kanzlerin - sowie das Bedürfnis, Dampf abzulassen. Das zeigt auch die Differenz zwischen dem Ergebnis von Kauder und dem von Michael Grosse-Brömer. Der parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion wird mit 92 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt.
Seehofer glaubt, dass die Union eine "offene rechte Flanke" hat
Die Sitzung der Unionsfraktion verläuft zwar erstaunlich friedlich. Dass es dort aber brodelt, zeigt auch der Beifall vieler Abgeordneter für Seehofer, als er sagt, man dürfe nach so einem Wahlergebnis nicht zur Tagesordnung übergehen. Es gehe nicht um einen Rechtsruck der Union, sondern um eine klare Positionierung der Union als Partei der Mitte, in der aber auch Wert- und Nationalkonservative eine Heimat hätten. Seehofer glaubt, dass die Union eine "offene rechte Flanke" hat, die geschlossen werden muss.
Vor der Unionsfraktion hatte sich bereits die CSU-Landesgruppe getroffen. Auch die Christsozialen sind stark dezimiert, statt 56 stellen sie nur noch 46 Abgeordnete. Doch wer eine Abrechnung der Übriggebliebenen mit Seehofer erwartet hatte, wurde enttäuscht. Es gab keine Personaldebatte. Die Sitzung verlief diszipliniert. Seehofer sagte anschließend zu Rücktrittsforderungen aus seiner Partei nur lapidar, er sei "sehr einverstanden, wenn bei diesem Wahlergebnis Fragen gestellt werden und diskutiert wird." Allerdings sei der Parteitag im November der richtige Ort, solche Debatten zu führen - "alles andere ist nicht hilfreich in dieser ungewöhnlich schwierigen Situation, die wir in Berlin zu bewältigen haben".
Seehofer ist angeschlagen, aber zumindest bisher gibt es niemanden, der sich traut, ihn herauszufordern. Der Unterschied zur Wahl 2013 war am Dienstag trotzdem augenfällig. Damals hatte die CSU fast 50 Prozent geholt, Seehofer strotzte vor Kraft - und in der CSU-Landesgruppe scherzten einige bei der Ankunft Seehofers, jetzt schwebe der "Heiland" ein. Diesmal muss Seehofer froh sein, dass keiner der Abgeordneten gegen ihn aufbegehrt.
Trotz der widrigen Umstände gelingt der von Seehofer schon lange avisierte Wechsel an der Spitze der Landesgruppe am Dienstag reibungslos. Gerda Hasselfeldt, die bisherige Chefin, hatte nicht mehr für den Bundestag kandidiert. In der vergangenen Legislaturperiode hatte sie es nicht leicht, sie war eine Art Scharnier zwischen Merkel und Seehofer. Und sie musste sich der Machtansprüche Alexander Dobrindts erwehren, der sich als Sprecher der CSU-Minister als Nummer eins der Christsozialen in Berlin empfand.
Der Verkehrsminister wurde jetzt auf Vorschlag Seehofers zum Nachfolger Hasselfeldts gewählt. 41 CSU-Abgeordnete stimmten für ihn als Landesgruppenchef, nur drei votierten mit Nein. Außerdem gab es eine Enthaltung und eine ungültige Stimme. Dobrindt will das Verkehrsministerium vorerst nebenbei weiterführen.